Das Urteil der Jury im Zweiten O livro Schreibwettbewerb
Bewertung und Begründung durch Michael Schreckenberg

Vierter Platz für Clemens Schwarz
Dritter Platz für Madeleine Ott
Zweiter Platz für Friederike Linscheid
Erster Platz für Sarah Wassermair
 

Vierter Platz für Clemens Schwarz
und sein Gedicht "Aus 1 Reise oder die Merznadel"

1.) Bearbeitung der Aufgabe

Die Aufgabe wurde nicht gelöst, der Autor verwendete nicht die vorgegebenen WSA-Worte, sondern eigene.

2.) Text

Abgesehen vom roten Faden der Reise und Suche, scheint zwischen den einzelnen Strophen kein nennenswerter Zusammenhang zu bestehen. Das Gedicht erweckt den Eindruck, der Autor habe das Motiv der Suche eher zufällig ausgewählt, weil der (WSA)-Begriff "Merznadel" dazu passte. Spürbar ist der Versuch, in jeder Strophe um ein WSA-Wort eine kleine Geschichte zu bauen und diese dann mit der Suche zu verbinden. Obwohl einige Strophen isoliert sehr gelungen sind, funktionieren sie im Zusammenhang nicht. Willkürlich scheinende Wechsel zwischen Komik und Kryptik (etwa 1./2. Strophe) oder unmotiviert wirkende Stiländerungen ("annen") plötzlicher Einsatz mathematischer Symbole, der weder angekündigt noch aufgegriffen wird – alles dies erweckt den Eindruck gesammelter, unzusammenhängender Einzelideen, die der Aufgabe wegen in eine künstliche Reihe gestellt wurden. Insgesamt betrachte ich den Text als misslungen. Ich möchte aber nicht unerwähnt lassen, dass die einzelnen Strophen für sich jeweils sehr stilsicher und geschlossen sind, wenn auch von sehr unterschiedlicher Qualität.


Dritter Platz für Madeleine Ott
und ihre Geschichte "[... Elda]"

1.) Bearbeitung der Aufgabe

Für mich hat keiner der drei anderen Autoren die gestellte Aufgabe an sich überzeugender gelöst als Kleinervogel. Die Einbettung der WSA-Worte in eine teilweise künstliche Umgangssprache geschieht absolut natürlich und stimmig, gleichzeitig passt jedes Wort exakt in den Textzusammenhang, ohne dass diese Zusammenhänge künstlich herbeigeführt wirken. Die vorgeschriebenen Worte tauchen als reine Nebensächlichkeit auf, ohne im Rest des Textes unterzugehen. Die Geschichte wirkt zu keinem Zeitpunkt nur für oder um diese Worte konstruiert, dennoch erscheinen sie niemals als Fremdkörper, so fremdartig sie von sich aus auch sein mögen. Großes Sonderlob!

2.) Text

Viel Licht und Schatten hier. Positiv zu vermerken sind vor allem der sichere und gute Stil und die gelungenen Beschreibungen. Kleinervogel hat hier – so verstehe ich es jedenfalls – die Beschreibungen von Orten, Personen und Gesten sehr an die Optik von Mangas angelehnt. So gewagt diese Übertragung eines bildlichen Mediums auf ein rein textliches Wirken sein mag, es bleibt festzuhalten, dass dieses Stilmittel konsequent und stimmig eingesetzt wurde. Allerdings wirkt die eindeutige wörtliche Beschreibung der Manga Bildsprache zuweilen sehr voyeuristisch. Die typische Lolitaerotik, die in Mangas verwendet wird, wurde in den Beschreibungen ohne Abstriche – allerdings auch ohne Anzüglichkeiten oder gar Geschmacklosigkeiten – umgesetzt. Für sich ist das wertfrei und Geschmacksache – mir gefällt es. Allerdings wirken die Beschreibungen im Zusammenhang mit dem Subthema "Missbrauch" doch zuweilen etwas unangebracht.

Ab von Stilfragen ist die Geschichte gut aufgebaut und spannend. Die Dialoge sind von stark unterschiedlicher Qualität, mal sehr gut, mal eher künstlich.

Zur Kritik: Es ist aber der Perspektivwechsel, der in diesem Text die meisten Probleme erzeugt. Die Frage "wer oder was ist Vaginastrauchvogel" wird an keiner Stelle beantwortet, eine Antwort wird auch nicht angedeutet und somit auch keine Erklärung oder Auflösung für den seltsamen Namen gegeben. Darüber hinaus scheint die "Fremdheit" des VSV den Menschen gegenüber logisch nicht ganz durchdacht. Viele zentrale und allgemeine Aspekte menschlichen Lebens scheinen dem VSV fremdartig und erklärungsbedürftig, während kompliziertere Konzepte oder sehr spezielle Dinge nicht erklärt werden. Als Beispiel mag dienen, dass der VSV wohl glaubt, seinem Leser erklären zu müssen, was der Mond ist, Busse aber als bekannt vorausgesetzt werden. Selbstverständlich ist das denkbar, ein so wahrnehmendes Wesen müsste aber umso genauer erklärt und eingeführt werden. Darüber hinaus scheinen für den VSV Regeln zu existieren, an die er gebunden ist, die aber auch nicht weiter erläutert werden. Er darf nicht eingreifen, weil der die Fremden (die Menschen) zu wenig kennt? Auch der Schluss – obwohl schön geschrieben – scheint nicht logisch. Der VSV beobachtet die Menschen nach eigenem Bekunden schon unglaublich lange. Und er hat vorher noch niemals gesehen, dass Menschen sich lieben, trösten, zueinander halten, sich füreinander opfern (ganz klar ist nicht, ob Letzteres hier zutrifft, aber es ist eine Interpretationsmöglichkeit)? So selten ist das doch gottlob auch wieder nicht. Es würde passen, wenn der VSV ein Zeitempfinden hat, das vom menschlichen sehr unterschiedlich ist (weil sein Leben zum Beispiel vergleichsweise kurz oder sein Zeitempfinden nicht linear wäre). Aber auch das würde mehr Erklärung erfordern.

Ebenfalls unlogisch erscheinen die Reaktion des Jungen auf den Missbrauch seiner Freundin oder – je nach Betrachtungsweise – ihre Motivation, sich missbrauchen zu lassen. Geld als Motivation mag gerade noch reichen, sich zu prostituieren, obwohl der Charakter Elda dazu noch näher beleuchtet werden müsste. Schließlich scheint sie vergleichsweise jung und gefestigt zu sein, da muss es etwas geben, dass die Motivation verstärkt. Aber ein inzestuöses Verhältnis, nur auf Geld aufgebaut – schwer glaubhaft. Und die genervte Reaktion des Freundes auf das, was seiner Freundin angetan wird, ist dermaßen gefühllos und egoistisch, dass seine durchaus edlen Handlungen später völlig unglaubhaft erscheinen. Auch hier wieder: Ein Charakter KANN sich in extrem kurzer Zeit wandeln. Aber dafür wäre die Beschreibung eines auslösenden Ereignisses notwendig.


Zweiter Platz für Friederike Linscheid
und ihr Gedicht "Warten auf jemanden der nur einmal kommt"

Zuvor: Die Vorrede war sehr irreführend und unnötig. Wer einen solchen Text als Gaga-Text bezeichnet riskiert, dass der nicht ernst genommen wird, oder dass die Leser eine tiefer gehende Auseinandersetzung für überflüssig halten. Wäre schade drum.

1.) Bearbeitung der Aufgabe

Die Aufgabe wurde sehr geschickt umgesetzt. Da es in einem Gedicht fast unmöglich ist, die vorgegebenen Worte natürlich und nebenbei einfließen zu lassen, war Edekire gezwungen, ihren Text um die WSA-Begriffe herumzubauen. Es ist ihr jedoch gelungen, eine Textumgebung zu schaffen, die nicht zwanghaft auf die Vorgaben ausgerichtet ist, sondern in der die WSA-Worte sich in den Zusammenhang einfügen. Nur logisch, dass so ein sehr surrealer Text entstanden ist. Besonders lobend hervorzuheben ist, dass die Autorin sich nicht nur auf die Verwendung der vorgegebenen WSA-Begriffe beschränkte, sondern sich entweder (genau kann ich das nicht nachvollziehen) weiterer Begriffe aus dem WSA bediente, oder Eigene schuf, die dem sehr ähnlich klingen.

2.) Text

Surreale Texte sind Geschmackssache, und schon von daher ist es mutig, ein so konsequent surreales Gedicht – das darüber hinaus die Grenzen der Begriffsdefinition für "Gedicht" sehr weit auslotet – einzureichen. Schon um diesen Mut anzuerkennen, erlaube ich mir, meine höchst subjektive Vorliebe für gute surreale Texte in meine Bewertung zum Nutzen der Autorin einfließen zu lassen.

Darüber hinaus gibt es aber auch sehr viel weniger subjektive Stärken des Textes: Die konsequente, kraftvolle Bildsprache, der harte, klare Stil, die durchgängige Wahrung der ungewöhnlichen Form. Dabei ist zu betonen, dass die surrealen Bilder durchaus nicht Selbstzweck sind, sondern in einem klar erkennbaren, wenn auch schwer zu deutenden Gesamtzusammenhang stehen. Dass die Autorin die Auflösung der Allegorien offen lässt, entspricht der Qualität des Textes.

Wenn man eine Schwäche im Text finden will, so könnte es die letzte Strophe sein. Sie wirkt wie der nicht ganz gelungene Versuch einer ironischen Brechung, die der Text keineswegs braucht, da er alles andere als ein Gaga-Text ist.


Erster Platz für Sarah Wassermair
und ihren Text "Nach der letzten Seite"

1.) Bearbeitung der Aufgabe

Die Bearbeitung der Aufgabe fällt – vor allem verglichen mit dem anderen eingereichten Prosatext – schwächer aus. Obwohl logisch in den Text eingebettet, ragen die einzelnen Begriffe doch zuweilen auf eine Weise aus dem Textfluss, die mit dem eigentlichen Inhalt der Geschichte nichts zu tun hat. Auch muss die Autorin mehrmals sehr konstruiert auf die WSA-Worte hinleiten.

Allerdings soll nicht unerwähnt bleiben, dass diese Konstruktionen ausgesprochen geschickt gebaut sind. Sie leiten nicht zu stark vom Hauptthema ab, und sind teilweise absolute komische Highlights (Haschischjodelhuhn). Von daher bin ich zwar der Meinung, dass die Aufgabe in "[... Elda]" und "Warten auf jemanden der nur einmal kommt" geschickter bearbeitet wurde, möchte aber ebenso betonen, dass sich die Lösungswege aller drei Texte auf vergleichsweise sehr hohem Niveau bewegen.

2.) Text

Silentium hat sich hier an ein Thema gewagt, dass jeden Schriftsteller beschäftigt oder beschäftigen sollte, und das somit auch zum Thema vieler bekannter Autoren wurde: Was sind die Figuren, die wir schaffen, welche Art von Geschöpf sind sie, wie lebendig, wie wirklich. Und sie behandelt dieses ebenso schwierige wie faszinierende metaphysische Thema anhand von Carolls "Alice's Adventures in Wonderland" mit einer Intelligenz und Leichtigkeit, die sich vor größten Vorbildern (mir fiel Luigi Pirandello ein) nicht zu verstecken braucht und diese zumindest in Bezug auf den Humor sogar schlägt. Außerdem gefällt mir – das dann sehr subjektiv – der Vergleich Autor/Gott, weil mir das eine immer schon als passendste Allegorie auf das andere erschien. Sollte der Autorin das bewusst gewesen sein, gibt es noch ein Extra-Sonderlob für subtilste Bestechung.

Selbstverständlich erfüllt dieser großartige Text auch alle hohen Ansprüche an Aufbau, Sprache und Stil.

Ich könnte noch seitenlang weiterloben, käme aber immer wieder auf die selben Punkte: konsequenter, durchdachter Aufbau der Gegenwelt, guter Lösungsvorschlag für das metaphysische Problem, intelligenter Humor – Witz im besten Sinne.

Ein großartiger Text.
 

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