Löwe


von Sarah Wassermair

Säkulare Pilgerfahrten sind auch nicht mehr, was sie einmal waren. Ich verbringe drei Tage während dem Filmfestival in Cannes und hinterher ist das Interessanteste, was ich darüber sagen kann, dass mich die vielen Pavillons mit ihren weißen, spitz zulaufenden Dächern an –

Über-Ich: "Okay, wenn jetzt auch nur einer von euch beiden ‚Schlumpforgie am Strand’ schreibt, dann kracht’s."
Ich: "Käme nicht auf die Idee."

– an eine Schlumpforgie am Strand erinnern.

Ich: "Autsch!"
Über-Ich: "Das hast du davon."

Die erste halbe Stunde lang beziehe ich meinen Kick einfach daraus, dass ich mithilfe des kleinen Akkreditierungskärtchens um meinen Hals an den gestreng aussehenden Burschen mit Anzug und Sonnenbrille vorbeikomme, die den Zaun zu diesem überkandidelten Campingplatz bewachen. Ich marschiere auch fünf- oder sechsmal ins Hauptgebäude mit dem Filmmarkt, lasse jedes Mal am Eingang meinen Rucksack auf Waffen untersuchen und setze dabei meine beste Terroristenmiene auf.

Dann erkunde ich die Pavillons und stelle fest, dass so ziemlich jedes Land der Welt, das jemals auch nur einen halben Film gemacht hat, so ein Ding hat. Jordanien. Marokko. Bosnien-Herzegowina! Nur Österreich nicht. Die österreichische Cannes-Präsenz besteht aus einem kleinen Ständchen irgendwo am Markt, an dem eine etwas gelangweilte junge Frau sitzt, Kaugummi kaut und in einem Magazin blättert. Das nennt sich dann "Austrian Film Commission" und reißt blutige kleine Fetzen aus meinem patriotischen Herzen. Was mich natürlich nicht daran hindert, etwa zehnmal am Tag möglichst unauffällig daran vorbeizuschlendern. Nur sicherheitshalber, für den unwahrscheinlichen Fall, dass ein austrianischer Branchenwichtling auf dem Weg zum Klo hier vorbeikommt. Ich hab meine Würde, aber Drehbücher hab ich auch.

Während der Österreichpavillon also durch seine Inexistenz glänzt, tut es der amerikanische durch seine Paranoia. Erstens ist es der einzige, für den man Eintritt zahlen müsste. Zweitens sitzt eine Frau davor, die sämtliche Akkreditierungen mit einem kleinen Laser scannt. Wahrscheinlich für den Fall, dass Al Kaida seine Mitglieder neuerdings mit gefälschten Festivalpässen ausstattet. Man weiß ja nie, was diese Turbanzottler in ihren Felsenhöhlen alles ausbrüten, wenn der Tag lang ist. Plötzlich kratzt sich Osama am Bart, tätschelt liebevoll seine Dialysegerät und beschließt, dass er den nächsten Film mit John Travolta cofinanzieren will, weil er damit der westlichen Kultur am allermeisten schaden kann.

Die dritte Sicherheitsmaßnahme, um den immensen Ansturm an Terroristen und Filmstudenten im Zaum zu halten, besteht aus mehreren hünenhaften Bodyguards. Natürlich wecken sonnenbrillentragende, walkie-talkie-sirrende Zweimeterburschen ganz ungesunde Impulse. Vor allem möchte ich vor ihnen auf- und abhüpfen und den Hühnchentanz aufführen, nur um zu schauen, wie sie reagieren. Ein Freund, dem ich die Situation später schildere, wird ganz korrekt bemerken, dass es die britischen Gardesoldaten sind, die sich nicht bewegen dürfen. Amerikanische Zeltbewachungsbulldoggen haben solche Einschränkungen nicht. Insofern ganz gut, so seine Feststellung im Weiteren, dass ich’s nicht getan habe, weil ich sonst bis zum Zelt der Italiener geflogen wäre. Die haben an der Landestelle schon ein paar Matzatzen aufgeschlichtet und halten Eisbeutel bereit. "Aha! Hast du geärgerte die Americano, si?" Ich hätte stoisch genickt und mich zu den anderen fünf Klugscheißern gesetzt, die auch schon den Hühnchentanz vor amerikanischem Hoheitsgebiet ausprobiert haben.

Da ich also nicht in den US-Pavillon darf, wandere ich stattdessen hinüber zum europäischen, wo es keinen Schutz vor Terroristen gibt, dafür aber Tee und Kekse.

Die Pointe der Geschichte ist aber eigentlich die, dass man da an einen saumäßig berühmten Ort kommen, Bodyguards angaffen, rote Teppiche bewundern und sich denken kann: "Wow, heute Abend trippelt hier Steven Spielberg entlang". Aber die Leute, über die man nachher schreiben will, die trifft man auf dem Heimweg.

Da ist der französische Busfahrer, der gemerkt hat, dass diese österreichische Chaotin sich völlig verirrt hat. Der lächelt und sagt: "Das ist gleich in der Nähe, da müssen Sie nicht bezahlen, ich bring Sie hin."

Dann der New Yorker, dem man im Flughafencafé in Nizza drei Stunden lang schräg gegenübersitzt und mit dem man gelegentlich den Ladestand des Laptopakkus vergleicht. Er erzählt mir, dass ihn eine Bostoner Firma hergeschickt hat. Anscheinend haben die irgendein streng geheimes neues Handcremchen entwickelt, nur ist der Bursche, der die ganze Zusammensetzung im Kopf hatte, kurz vor der Patentanmeldung gestorben. Mein Gegenüber ist jetzt seit sechs Wochen damit beschäftigt, aus den paar übrig gebliebenen Schmierzetteln das geheime Rezept zu rekonstruieren.

Schließlich muss er gehen – seine Familie abholen, auf die er hier gewartet hat – und ich tippe ein wenig vor mich hin. Durch die Flughafenhalle schwirren auch ein paar Spatzen und einer lässt sich auf dem Geländer direkt neben meinem Tisch nieder. Er schaut mich – beziehungsweise mein Frühstück – auffordernd an. Nach einem kurzen Kontrollblick, ob mich eh niemand beobachtet, füttere ich ihn mit meinem Baguette. Der Spatz mustert ein jedes Mal zuerst das Brotbrösel, dann wieder mich, dann erneut das Brotbrösel, bis er entschieden hat, dass ich weniger gefährlich aussehe als das Brotbrösel deliziös, und es mit einem letzten todesverachtenden Hüpfer erobert. Ich bin so in das Spiel versunken, dass ich erst nach einigen Minuten merke, dass mich jemand beobachtet.

Mir gegenüber sitzt eine weißhaarige Dame, elegant, im mintfarbenen Kleid und Gehstock. Sie zieht eine Augenbraue hoch, ich erwidere ihren Blick kühl ("Ja, Lady, ich füttere Spatzen und das ist gut so!") und plötzlich grinsen wir beide von Ohr zu Ohr.

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