Kuh


von Sarah Wassermair

Meine Oma väterlicherseits füttert Menschen. Jahrelanges Sammeln von Zeugenaussagen und penible Feldforschung haben ergeben, dass die meisten Vertreterinnen der Gattung homo sapiens senilis mehr oder weniger stark zu diesem Verhalten neigen. Meine Brüder und ich haben die Theorie aufgestellt, dass der Anblick des ersten Enkelkindes zu einer gewaltigen Hormonausschüttung im Stammhirn führt, die die Wahrnehmung der Oma für immer verändert. Ab diesem Moment sieht sie keine normalen Menschen mehr, sondern nur noch verhärmte Kreaturen, die etwa fünf Kalorien entfernt vom Hungertod sind.

Bei meiner Oma nimmt das Ganze fast pathologische Ausmaße an. Bei der diesjährigen Weihnachtsfeier hab ich den halben Nachmittag über so getan, als sei ich tot, um keinen von ihren Keksen kosten zu müssen. Der zusätzliche Vorteil dieser Strategie ist der, dass keiner von einer Leiche erwartet, mit ihren kleinen Cousinen zu spielen. Der Nachteil ist, dass sich gelegentlich Katzen zum Schlafen auf dein Gesicht legen und du kannst nichts dagegen machen, ohne verräterische Lebenszeichen von dir zu geben.

Wie dem auch sei, in den meisten Cateringsituationen ist meine Großmutter unbestrittene Herrin der Lage. Einzig ein kleines Detail ist ihr unbegreiflich, nämlich, wie ein Mensch auf die Idee kommen könnte, keine toten Tiere auf seinem Teller zu dulden. Ich habe ihr zwar schon multipel in möglichst einfachen Worten erklärt, dass ich an Seelenwanderung und das Konzept der gekrümmten Zeit glaube und folglich in der dauernden Angst lebe, aus Versehen eine meiner zukünftigen Reinkarnationen zu essen.

Ich habe ja schon gelernt, solche Vegetarismuserklärungen nur sehr vorsichtig abzugeben. Der Spruch: "Eigentlich hab ich ja nichts gegen Fleisch. Aber ich hab mal eine verweste Maus unterm Sofa gefunden, und seitdem muss ich bei jedem Steak dran denken, dass es bald zu grünlichem, stinkendem Schleim zerfallen sein wird" ist nur so lange cool, bis dir auffällt, dass zwei kleine Mädchen mit am Tisch sitzen, dich mit schreckensgeweiteten Augen anstarren und dann zu heulen anfangen. Ich spreche da aus Erfahrung.

Nur meine Großmutter scheint das irgendwie nicht zu überzeugen, denn sie fährt fröhlich fort, mich zu Fleisch überlisten zu wollen. Ein Schnitzel bleibt ein Schnitzel, auch wenn man es unter kunstvoll drapierten Kartoffeln versteckt oder als besonders knusprig geratenen Salat zu tarnen versucht. Bei einem unserer letzten Besuche kam es dann zu folgendem Dialog.

Oma trägt auf und lächelt dabei unschuldig. Ich blicke mehrmals von ihrem Gesicht zu meinen Teller und zurück und versuche herauszufinden, ob sie sich über mich lustig macht.

ICH: "Oma? Hast du da gerade ein Schnitzel auf meinen Teller gelegt?"
OMA: "Natürlich."
ICH: "Wie wär's, wenn dir jetzt auffällt, dass das ein Versehen war und du mir unabsichtlich das ermordete Vieh vorgesetzt hast, das eigentlich für meine blutrünstigen Brüder bestimmt war?"
OMA: "Aber das ist gesund!"
ICH: "Freut mich."
OMA: "Ganz frisches Kalbfleisch!"
ICH: "Kindsmord, noch besser."
OMA: "Ich hab Schweinernes auch. Magst du lieber Schweinernes?"
ICH: "Nein!"
OMA: "Ganz zartes Schweinernes!"
ICH: "Nein!"
OMA: "Soll ich's für dich schneiden?"


Und das summiert es eigentlich. Wer einer Neunzehnjährigen anbietet, ihr das Essen vorzuschneiden, der ist eigentlich zu allem fähig.

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