von Sarah Wassermair
Es gibt da einen Satz, den ich nur zu hören brauche, um innerhalb weniger
Sekunden alle Stadien von gesittetem Entsetzen bis zu nackter Panik zu
durchlaufen, einen halben bis dreiviertel Herzinfarkt zu erleiden und mich zu
grämen, jemals geboren worden zu sein. Ich habe – wie jeder Neuzeitler – in
meinem Stammhirn einen kleinen Höhlenmenschen sitzen, der dort schon seit ein
paar Jahrhunderttausenden herumhockt und seit dem Meeting mit Siggi Freud "Es"
heißt. Mein Kumpel Es ist säbelzahntigererprobt und weiß, was es bedeutet, wenn
der Satz gesprochen wird. Sobald Es den Satz hört, wittert es die Gefahr, zieht
die richtigen Schlüsse und ergreift entsprechende Gegenmaßnahmen. Das heißt, es
rennt hysterisch in meinem Schädel herum, wedelt mit den Armen, schreit Dinge
wie: "Aaaaaargh! Ugh! Ächz! Japs!" und zieht versuchsweise an allen Schaltern,
die es erreichen kann, vor allem die, die mit "Fluchtinstinkt", "Totstellreflex"
und "Ohmeingottmeingottmeingott!" gekennzeichnet sind.
Der Satz? - "Es dauert nur zehn Minuten."
Meistens kommt dieser Satz von meiner geliebten Mutter, die genau weiß, dass da
gar nichts zehn Minuten dauern wird. Sogar meine hilf- und hoffnungslosen
Versuche, mittels Verhandlungsgeschick und allerlei Ausflüchten, dem drohenden
Unheil zu entgehen, dauern schon wesentlich länger als zehn Minuten. Es geht
meistens darum, dass sie der Meinung ist, ich sollte mich ihr auf dem Weg zu
einem sozialen Geschehen anschließen, beispielsweise einer Ausstellung. Ich weise
dann darauf hin, dass ich nicht im Geringsten daran interessiert bin, auf einer
Vernissage eines drittklassigen Pinselwinsels herumzustehen, der über
künstlerische Begabung und IQ einer lobotomierten Schuheinlage verfügt. Und mir
dann dort anzuhören, wie Leute, die noch dämlicher sind als die Schuheinlage,
auf den Pinselwinsel Lobreden halten. Diese Lobreden gehen immer ganz arg an die
Grenzen von Rhetorik, Grammatik und Sillygeduld und beginnen mit: "Ich werde
mich kurz halten", was fast genauso furchterregend wie "Es dauert nur zehn
Minuten" ist.
Mütterchen legt mir dann sehr klar und einsichtig dar, dass wir diese Vernissage
ja nicht zum Vergnügen besuchen, sondern aus sozialer Verpflichtung heraus und
den Veranstaltern zuliebe, weil doch eine Cousine siebten Grades des Vaters der
in Tibet verschollenen Tante des Hausdieners des Onkels unseres Zahnarztes beim
Buffet das Mineralwasser ausschenkt.
"Es dauert nur zehn Minuten. Und sonst kommt keiner und das macht ein schlechtes
Bild."
Ich möchte antworten, kann aber nicht, weil im Hinterkopf noch immer der
Höhlenmensch im Kreis herumrennt und schreit.
Ich: "Kannst du bitte einmal kurz die Klappe halten?"
Es: "Aaaaaaaaargh!"
Das Ich wartet kurz, bis das Es bei seiner Im-Kreis-Rennerei in seine Nähe kommt
und stellt ihm dann ein Bein. Es macht einen ganz famosen Bauchfleck.
Es: "War das jetzt nötig?"
Ich: "Wie soll ich mich konzentrieren und uns vor ewiger Verdammnis und
Vernissage bewahren, wenn du hier so herumbrüllst?"
Es: "Flüchten! Mit der Keule zuhauen! Mit einen Schnabeltier zuhauen! Wasweißich."
Ich: "Das ist unsere Mutter, du Relikt! Wir können sie nicht mit einem
Schnabeltier hauen!"
Das Es schnieft beleidigt, das Ich denkt einen Moment nach und fragt dann
misstrauisch: "Und wie kommst du jetzt auf Schnabeltiere?"
"Kinder, tuts ihr schon wieder streiten?", fragt das Über-Ich hinter den beiden.
Das Ich fährt zusammen und schaut sich um. Über-Ich trägt aus irgendeinem Grund
Sonnenbrillen und einen schwarzen Rollkragenpulli. Und ein Schnabeltier unterm
Arm.
Über-Ich: "Fragt gar nicht erst nach dem Schnabeltier. Fakt ist, dass ihr beide
versucht, uns vor einem sozialen Akt der Nächstenliebe zu drücken. Unsere
geliebte Mutter allein den Schrecknissen der Vernissage aussetzen! Und dann erst
die entfernt bekannte Mineralwasseurin! Weh und Übel bringt ihr über die Welt,
Kinder, ernsthaft jetzt. (Über-)Ich kann nicht zulassen, was Ich da vorhat, auch
wenn Es es (also Mich) dabei unterstützen will."
Das Es steigt an dieser Stelle aus dem Gespräch aus, weil es mit den
Personalpronomen durcheinander kommt. Es verkriecht sich hinter die Amygdalen
und versucht dort an den Fingern abzuzählen, warum Es nicht Ich sein kann und
über Ich noch Über-Ich steht.
Das Ich starrt das Über-Ich an und ihm fällt (neben dem Schnabeltier) etwas auf.
Ich: "Sag mal, wieso hast du eigentlich fünf Kleidergrößen weniger als wir
beide?"
Über-Ich: "Weil ich das Über-Ich bin, du Trottel. Ich bin alles, was du sein
willst."
Ich: "Aber nachdem ich nicht auf dieser Vernissage sein will, dann musst du
folglich nicht auf dieser Vernissage sein."
Über-Ich: "Wem willst du hier mit Logik kommen? Dir etwa?"
Ich: "Okay, keine Logik. Aber wir haben da ein kleines Problem."
Und das Problem haben wir in der Tat, weil Mama nämlich nicht blöd ist. Sie hat
natürlich die Zeit genutzt, in der ich mit mir (und Ihm und Über-Mir)
beschäftigt war. Während ich also glasig in die Gegend gestarrt habe, hat sie
mich schon zuerst in vorzeigbare Kleidung, dann ins Auto und zuletzt auf die
Vernissage bugsiert. Die gesamte Arbeitsgruppe Sillys Bewusstsein wird sich
unangenehm bewusst, dass ich vor einem Bild stehe, auf dem ein blauer Klecks in
gewagtem Winkel zu einem Punkt herumhängt. Schlimmer noch. Ein fieses Pingeldipingeldipingpingping verkündet, dass da hinten gerade ein Hornbrillerich
mit einem Löffel an sein Champagnerglas hämmert – das universelle Signal für
eine drohende Rede.
Ich: "Leute, jetzt wird's Zeit für einen Abgang."
Über-Ich: "Vorschläge?"
Ich: "Wenn wir uns dort hinten links an der dicken Frau in Rosa vorbeiquetschen,
ohne auf ihren Yorkshireterrier zu treten, danach dem Typ mit Schnurrbart
ausweichen und dann den Raum unter dem Buffettisch als Fluchttunnel verwenden,
schaffen wir's vielleicht mit einem minimalen Verlust an Hirnzellen zur Tür."
Über-Ich: "Feige Flucht – ist das mit unserer Selbstwahrnehmung vereinbar?"
Ich: "Du regst mich auf! Hast du vielleicht einen besseren Plan?"
Über-Ich: "Wir könnten darauf hoffen, dass der Kopf des Redners explodiert."
Das Ich starrt das Über-Ich misstrauisch an und dieses fügt leicht pikiert
hinzu: "Als Ausdruck einer höheren kosmischen Ordnung, meine ich."
Kurzes Schweigen im Hirn. Der Redner behandelt gerade die frühe Kindergartenzeit
des Künstlers.
Ich: "Was treibt eigentlich das Es schon wieder?"
Über-Ich: "Das läuft dort hinten im Stammhirn wie blöd im Kreis herum und
schreit 'Aaaaaaaaaaargh!'"
Ich: "Ich beantrage, dass wir Es aus dem Team werfen."
Über-Ich: "Antrag angenommen."
Der Redner ist jetzt bei der mittleren bis späten Kindergartenzeit angekommen
und nähert sich ganz langsam der Präschulitischen Ära.
Ich: "Und was tun wir jetzt?"
Über-Ich: "Explodierende Köpfe?"
Es: "Aaaaargh?"
Ich: "Mist."
Wir verzweifeln und das Schnabeltier findet das alles ziemlich doof.
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