Was ist in dem Koffer?
Ich bin ein glücklicher Mann. Das hat seine Ursache nicht darin, dass ich vielleicht reich wäre,
besonders intelligent oder gut aussehend oder sehr erfolgreich – das alles ist, bedauerlicher
Weise, nicht der Fall.
Nein, der Grund, warum ich so glücklich bin, ist der Logenplatz, von dem aus ich tagtäglich
die unglaublichsten Phänomene betrachten darf: Ich bin verheiratet. Dieser Umstand eröffnet
mir quasi ununterbrochen den Zugang zu Geschehnissen, die mir unerklärlich und deshalb rasend
spannend sind. Und eines der regelmäßigsten, unerklärlichsten und merkwürdigsten Phänomene
ist ohne jeden Zweifel das, was ich in Ermangelung einer besseren Bezeichnung "die
Kofferfrage" nenne.
Eigentlich ist es nicht die Frage selbst, sondern vielmehr die Antwort darauf, die so
unerklärlich ist. Präzise gesagt: Die weibliche Antwort. Denn während ein Mann auf diese
Frage so etwas Banales und Unsinniges antwortet wie "alte Klamotten", "meine
schmutzige Wäsche" oder "nichts!" (je nach Sachlage und Inhalt), weiß eine
Frau, dass die einzig richtige Antwort auf diese Frage lautet: "Der muss in den Keller!
" Und das macht diese Frage für mich zu einem Synonym für das Mysterium
"weiblicher Antworten".
Denn Frauen antworten niemals auf das, was man sie fragt. Nicht nur gelegentlich, sondern
immer, grundsätzlich und permanent. Das führt bei schwächeren Geistern häufig zu
Konflikten. Mancher Mann fühlt sich unverstanden, mitunter ignoriert oder auf den Arm
genommen, doch ich sehe dies eher als sportliche Herausforderung. Es gibt mir die
Möglichkeit, meine eigene geistige Leistungsfähigkeit, meinen Verstand und meine List
zu prüfen.
So wie neulich, als ich wieder mal von der Arbeit nach Hause, in mein Reich, meine Burg
eilte. Ich komme täglich nach Hause und ich liebe diesen Moment, den Moment, da ich
meine Lieben wiedersehe; wo ich sehnlichst erwartet und überschwänglich begrüßt werde und
meine Familienmitglieder es kaum erwarten können, meinen täglichen Arbeitseinsatz und
meine Mühe um sie, die mir alles bedeuten, durch Wärme und Liebe zu honorieren. Vor allem
aber liebe ich die ungeheure Spannung, die sich im Moment des Türöffnens entwickelt, wenn
ich mir die Frage stelle: Was zur Hölle passiert heute wieder?
Ich öffne also die Wohnungstür und stürze in den Flur oder genauer gesagt, ich stürze über
ein großes, braunes Postpaket, welches sich heimtückischer Weise genau hinter der Tür
befindet.
"Was machst'n für'n Krach?", schallt es aus dem Wohnzimmer.
"Blabbelblabbel!", sagt meine Tochter und krabbelt in den Flur. Sie grinst,
weil Papa auf dem Boden liegt. Ich grinse zurück. "Blabbel!", bekräftigt sie
noch einmal. Ja, denke ich, das habe ich auch gerade gedacht.
Warum steht dieses Paket im Flur? Warum direkt hinter der Tür? Was enthält es und
wo
kommt es her? Fragen über Fragen, die in wenigen Augenblicken beantwortet wären, wenn
ich schwul wäre und mit einem Mann zusammenleben würde. Aber in der Realität sieht mal
wieder alles anders aus: ich lebe mit einer Frau zusammen und das fordert vollen Einsatz,
wenn ich die Antworten auf meine Fragen noch heute bekommen will. Aber jahrelanges Training
hat mich klug gemacht und mein Ehrgeiz ist entfacht: Ich will es wissen!
Ich stehe auf und begebe mich ins Wohnzimmer, um die Königin zu begrüßen, welche
unserer Lebensgemeinschaft mit Weisheit und Würde vorsteht. Während ich meine Aufwartung
mache, arbeitet mein analytischer Geist emsig und schließlich stelle ich beiläufig, so
als wäre nichts besonderes, die erste Frage:
"Wann ist denn das Päckchen gekommen?"
"Da sind Baby-Sachen drin." Aha. Volltreffer. Nicht unbedingt eine Antwort
auf die gestellte Frage, aber eine auf die, die mich wirklich bewegt. Das wäre also
geklärt. Ich komme nicht umhin, mich für meine scharfsinnige Fragestellung zu bewundern.
"Und?", frage ich also weiter. "Sind sie schön?"
"Habe ich bei eBay ersteigert", antwortet die Regentin. Sieh mal einer an:
bei eBay. Kontoauszug prüfen, notiere ich in Gedanken. Sonst muss ich demnächst wieder
den Bankangestellten bitten, meine Karte aus dem EC-Automaten zu befreien. Also zwei
Fragen sind geklärt, ich kenne Inhalt und Herkunft des Pakets und das ohne große Mühe.
Ja, gelernt ist gelernt! Aber jetzt wird es schwierig: Warum steht das Ding im Flur herum?
Wie gehe ich dieses Problem an? Einem Geistesblitz folgend frage ich: "Soll ich's
mal aufmachen?"
"Im Kinderzimmer war kein Platz, im Kämmerchen auch nicht. Hab's erstmal im Flur
stehen gelassen." Ist mir aufgefallen. Da wäre ja dann alles geklärt. Zufrieden
raffe ich meine Tochter vom Boden auf. "Na, und wie war dein Tag?"
"Ta-ta-ta, belabbel!", sagt sie. Das macht mich schon nachdenklich. Wenn ich
bloß wüsste, zu welcher Frage diese Antwort passt.
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