Dressed to kill
19:00 Uhr.
Ich sitze auf dem Sofa, in 6-Loch-Rangern, Jeans, Pullover, Lederjacke, Schal
und Handschuhen, denn draußen ist es kalt und genau dort will ich hin: Raus. Genauer
gesagt: Raus, nach Köln und ins Kino gehen. Die Vorstellung beginnt um 20:15 Uhr.
Jetzt ist es, wie gesagt, sieben. Zeit genug. Die Fahrt dauert etwa 15 Minuten,
ins Parkhaus, noch mal 5 Minuten zu Fuß bis zum Kino, kein Problem. Nein, Zeit
ist genug. Wenn da nicht meine Frau wäre...
Denn natürlich fragt man sich: Warum sitzt der Kerl in Hut und Mantel auf dem Sofa, wenn er
eigentlich ins Kino will? Weil... nun ja, weil meine Frau sich gerade anzieht. Sie sagte: "Ich zieh' mich eben an, dann können wir los!" Das war vor fünf Minuten. Aufgrund dieser
Aussage habe ich mir meine Kluft angezogen, obwohl ich es eigentlich besser hätte wissen
müssen. Denn jetzt beginnt er: Der Streetwear-Boogie.
Der Streetwear-Boogie beginnt in der Regel mit folgendem Geräusch: Quietsch-Bums.
Quietsch-Bums ist das Geräusch, welches die Schranktür meiner Frau im Schlafzimmer von sich
gibt, wenn man sie schließt. Danach folgt, im Normalfall, ein Tapp-tapp-tapp, dann
öffnet sich die Wohnzimmertür und Frau erscheint. So wie jetzt.
"Und?" Dies ist die Eröffnungsfrage. Bei dieser Frage pflegt sich meine Frau
leicht nach rechts zu drehen, um sich mir mit elegant in die Hüfte gestemmten Händen
im Dreiviertelprofil zu präsentieren.
Heute trägt sie einen schmal geschnittenen, schwarzen Rock, elegante schwarze Pumps, ein
enges schwarzes Top mit einer burgunderroten Strickjacke darüber. Schlicht, aber
bezaubernd.
Ich setze ein ehrlich empfundenes Lächeln auf und antworte, wohl wissend, dass in diesem
Stadium des Streetwear-Boogies jede Antwort zum gleichen Ergebnis führt, genau das:
"Schlicht, aber bezaubernd!"
"Gut", antwortet Frau erleichtert und entschwindet meinem Blick. Tapp-tapp-tapp,
quietsch. Quietsch ohne Bums, ist nun wiederum das Geräusch, dass die Schranktür meiner
Frau von sich gibt, wenn man sie öffnet. Es folgt zwingend auf "Gut" und Tapp-tapp-tapp.
Ich sitze auf dem Sofa und schaue gelangweilt durch das ruhige Zimmer. Warm ist es. Gut
geheizt. Handschuhe ausziehen wäre eine gute Idee. Ich ziehe sie also aus und werfe sie
neben mir aufs Sofa.
Quietsch-Bums.
Ein Tapp-tapp-tapp später erscheint Frau in der Wohnzimmertür. Sie trägt eine schwarze
Stoffhose und Lackhalbschuhe, ansonsten wie zuvor. "Rock war mir doch zu unbequem
fürs Kino – geht das auch so?"
"Unbedingt!" antworte ich überzeugt. "War vorher vielleicht auch eine
Spur zu elegant, ich meine, fürs Kino..."
"Ja, dachte ich auch!" Erleichtert. Sie lächelt und verschwindet.
Quietsch. Ich nehme den Schal ab und werfe ihn zu den Handschuhen.
19:20 Uhr. Quietsch-Bums.
Ich lege das Magazin weg, in dem ich gerade blätterte, und wende meinen Blick zur
Wohnzimmertür. Schwarze Stoffhose, eng geschnittene, schwarze Bluse, Perlenhalskette
(Zucht) und weiß-schwarze Halbschuhe. Sieht toll aus.
"Andere Schuhe?" frage ich. "Ja, sah so trist aus, alles in schwarz.
Und die Kette – passt die zur Bluse?"
"Auf jeden Fall. Perlen passen fast zu allem."
"Okay. Dann bin ich gleich soweit."
"Ja sicher."
Tapp-tapp-tapp-Quietsch.
Eigentlich könnte ich die Jacke auch ausziehen. Am Ende erkälte ich mich noch,
wenn ich gleich so rausgehe, so erhitzt. Was heißt überhaupt "gleich"?
Nachher!
Urplötzlich steht meine Frau wieder im Wohnzimmer und ich bekomme vor Schreck fast
einen Herzinfarkt. Das Biest hat die Schranktür nicht geschlossen. Oder ich habe sie
nicht gehört. Vielleicht bin ich kurz eingenickt? Es ist 19:32 Uhr.
Hüftjeans, rote Chucks, Longsleeve-Girlie-Shirt, Velourslederjacke. Die Perlenkette ist
weg, statt dessen Kreolen im Ohr. Stilwechsel um geschätzte 180 Grad, aber sexy.
"Und?", fragt sie. Mein Gott, denke ich, der Immelmann-Turn: Sie kehrt einfach
um und geht noch mal ganz zum Anfang zurück. Das kann ja heiter werden.
"Phantastisch!", antworte ich, während ich die Schuhe ausziehe. "Das
andere war schön, aber sportlich passt eigentlich auch besser zum Kino".
Sie nickt. "Und die Ohrringe? Die hier oder lieber die kleinen Rosen?"
"Nein, die hier, würde ich sagen. Die Rosen sind so verspielt, die hätten besser
zu der roten Strickjacke gepasst!"
Ich sehe, wie der Blick meiner Frau nachdenklich wird und beiße mir augenblicklich
auf die Zunge.
"Ja, hast recht", sinniert Frau, "vielleicht doch lieber die
Strickjacke? Aber was ziehe ich da drüber?"
"Nichts!" rufe ich schnell. "Ich meine, bleib bei der Lederjacke und dem
Top, vergiss das mit der Strickjacke. Die Kreolen sind schön, sieht toll aus."
Frau zieht von dannen, aber ich habe das bange Gefühl, dass sich so etwas wie Verunsicherung
in ihren Blick geschlichen hat. Warten wir's ab.
Quietsch.
19:52 Uhr. Vor etwa fünf Sekunden Quietsch-Bums, aber nach Tapp-tapp-tapp keine Frau
erschienen. Vermutlich ins Bad gegangen. Döse wieder weg.
"So, jetzt können wir!" Ich schrecke hoch. Der Blick des Triumphes in Ihren
Augen zeigt mir unmissverständlich, dass der Streetwear-Boogie zu Ende getanzt ist. Aus
dem offenen Haaren ist ein Pferdeschwanz geworden, die Velourlederjacke ist jetzt
eine Jeansjacke, während die Jeans einer auf Hüfte geschnittenen Cargo-Hose gewichen ist.
Und die Chucks? Die sind jetzt schwarz mit Flammen-Applikation. Ich schaue auf die Uhr.
20:04 Uhr. Ich erhebe mich stöhnend.
"Du bist ja noch gar nicht fertig!", stellt meine Frau empört fest.
"Nein", antworte ich, "ich hab getrödelt."
Während ich meine Kluft wieder anlege, denke ich vielleicht zum tausendsten Mal darüber
nach, ob ich irgend etwas anders hätte machen können, etwas anderes hätte antworten können,
um das Ritual des Ankleidens zu durchbrechen und vielleicht einmal, nur dieses eine Mal
irgendwo pünktlich anzukommen.
Die Antwort ist natürlich "Nein". Was hätte es mir genützt, um 18:30 zum Aufbruch
zu blasen? Es hätte mir einen verwunderten, leicht spöttisch-verständnislosen Blick und
ein "Wir haben doch noch massig Zeit!" eingetragen. Hätte es mir genützt, zu sagen:
"Trag doch einfach die Flammen-Chucks, eine Cargo-Hose, ein Shirt und eine Jeansjacke"? Natürlich nicht. Sie hätte geantwortet: "Ist doch viel zu kalt dafür!"
Ich mache die Probe und frage beiläufig: "Ist Dir das denn nicht zu kalt so?"
Wie aus der Pistole geschossen kommt die Antwort: "Ach was, wir sind doch die meiste
Zeit im Auto oder im Kino!" Na bitte. Dann wäre ja alles soweit klar.
Ich bin wieder fertig angezogen und tatsächlich, wir brechen auf. Ein letzter
Blick zurück auf die kleine Uhr im Regal sagt mir, es ist zehn nach acht. Egal, denke ich. Wir können zur
Not das Kino sausen lassen und einfach irgendwo lecker Essen gehen. Aber wahrscheinlich
müssen wir dann vorher noch mal nach Hause.
Zum Essen gehen muss man sich ja was passendes anziehen.
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