Paul Delvaux: La grande allee, 1964


Die große Allee

Wir haben die Gardinen herausgehängt,
sie säumen jetzt die Allee, wie Fahnen,
nein, wie Segel, samtrot, ungebauscht,
nein, wie Wimpel, schlaff und tot,
nein, Leichentücher, mit glattem Faltenwurf,
oder Laken, oder doch eher wie Fahnen,
wie die steifen, roten Banner einer
Revolution, von der niemand mehr weiß,
wer gegen wen warum und wofür.

Sie werfen lange Schatten, hart,
konvex und geometrisch auf Platten,
Alabaster, matt, oder weißer Sandstein,
präzis angeordnet, quadratisch, und
sauber von grauem Feldspat begrenzt,
die Sonne knallt auf das Gestein und
lässt es leuchten, warm und stumpf.
Aus einer Ecke ragt ein Stück Felsen,
Granit, schwer und scharfkantig.

Vollmondhochsommerlichtglasur.
Auf dem blanken, warmen Pflaster turnt
und tanzt, barfuss, ein Mädchen,
ein fabelhaftes Mädchen ist das,
rank und schlank und einfach fabelhaft,
nackt, nackt ist es, nackt und
niemand schenkt ihm Beachtung,
seine Brüste wippen (ein wenig)
und alle starren anderswo hin.

Am Eingang zum Pavillon sitzt
zur Linken eine blonde Göttin,
barbusig und steif und kühl und schön,
die Hände gefaltet im Schoß, steht
zur Rechten eine blonde Göttin,
barbusig und steif und kühl und schön,
mit einer Petroleumlampe in der Hand,
die sie wie ein Zepter hält oder,
freundlich, wie ein Mordwerkzeug.
Und die Gewänder sind, und Teppiche,
aus schwarzem Samt und rotem Brokat,
und die Röcke aus weißer Seide.
(Weiß wie die Unschuld und rot
wie Blut und schwarz wie der Tod.)

Man hört von hier die Brandung,
das Meer riecht streng nach gar nichts,
ein bisschen Salz, vielleicht, Ozon,
Eau de Himmelblau und Langeweile,
und Backgammon am Nachmittag.

Eine Dame, ganz in Schwarz, mit
langem Rock, der auf dem Boden schleift,
(wir haben die Gardinen herausgehängt,)
mit Dot und breitkrempigem Hut
mit aufgestecktem Blumenbouquet,
eine Dame, schwarz und schön und giftig,
wie eine ungenießbare Morchel, verlässt,
dem Betrachter den Rücken zugewandt,
den Pavillon und spaziert die Allee hinab,
geht zum Strand, gerade wie auf Gleisen.

Und jenseits der Allee ist's wüst,
keine Gärten und kein Sonnenobst,
kein braches Feld und, saftig, Gras,
kein Kraut, das in die Höhe schießt,
noch sonst ein üppiges Gezweig,
nur, struppig, genügsame Vegetation,
nur ein verwelkter Telegraphenmast
und ein alter, fasergrauer Lattenzaun,
den, vielleicht, vor zweihundert Jahren
Tom Sawyer einmal gestrichen hat.
Dann: ein Abstellgleis der Western Union,
und einer der Güterwaggons, mit denen
Jack Kerouac durchs Land gefahren ist,
oder der junge Ernest Hemingway.

Die Dame, ganz in Schwarz, erreicht
das Ende der großen Allee, dort,
wo sich terrassenförmig, und dann
als Plateau, die Promenade erhebt,
wo die Hautevolee auf und abflaniert
und über Welt und Wetter witzelt,
abends Tanz, Cocktails, süß und süffig,
dann schwarz und warm, die Nacht,
der letzte Ausläufer der Landzunge,
dann die Mole und das Meer und, stumm,
die letzte Fahne (nein, ein Laken,
nein, ein Segel, nein, ein Leichentuch),
und am Ende eine breite Treppe ins

Nichts.
 

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