Eine weitere Deutung plus Nachtrag

 

Ich würde gerne zwei Relationen herstellen: zum einen eine Relation zwischen dem Satz: "In der abendländischen Kultur ist die Vorstellung eines Gerichthaltens nach dem Tode verbreitet." Und dem Satz: "Bei K. ist durch die repressive Gesellschaftsnorm das Über-Ich besonders machtvoll." Zum anderen eine Relation zwischen deiner Deutung des Romans und meiner eigenen, sprich: zwischen einer psycho- und einer theologischen Deutung, die sich bereits in den beiden Sätzen erkennen lassen. Ich greife dafür auf die Philosophie Nietzsches zurück bzw. einen Gedankengang, der sie wie ein roter Faden durchzieht und Nietzsche sein Leben lang verfolgte. Nietzsche ist als Kritiker überkommener Moralvorstellungen der "abendländischen Kultur" bekannt geworden. Ich erlaube mir, dieses Stichwort aufzugreifen, und die Frage, die sich daran anschließt, in den Raum zu stellen: Was sind die zentralen Einflüsse der "abendländischen Kultur"? Der Kürze halber beschränken wir uns auf eine grobschlächtige und undifferenzierte Antwort: Christentum und antike Philosophie. Das eine hat nicht nur das religiöse Denken der Menschen Jahrhunderte lang beeinflußt, sondern auch die moralischen, die gesellschaftlichen, die politischen und die ökonomischen Anschauungen, Denkweisen, Prozesse und Lebensräume nachhaltig geformt, das andere wurde zur Grundlage und zum Ausgangspunkt der gesamten abendländischen Wissenschaft und der sie auszeichnenden Rationalität. Wenn Nietzsche also die Moralvorstellungen des Abendlandes beschimpft und auseinandernimmt, geht er sehr weit zurück, nämlich zu den Ursachen des "Übels" und das ist in seinen Augen die christliche Moral und die sokratische Philosophie. Beiden macht er den Vorwurf, daß sie metaphysische Vorstellungen und Werte, die, von einem halbwegs kritischen, rationalen, vernünftigen und wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen, unhaltbar erscheinen müssen, verabsolutiert hätten: dazu gehören die Vorstellungen des (an sich) Guten und der Unsterblichkeit der Seele, aber eben auch die Vorstellung einer jenseitigen Welt und eines "Gerichthaltens nach dem Tode". Nietzsche geht aber noch weiter: er behauptet nämlich, daß erst durch diese Verabsolutierung christlicher Werte die Innenwelt des abendländischen Menschen entstehen konnte, eine Innenwelt, eine Psyche, über die der Mensch in barbarischen und archaischen Gesellschaften in dieser Form nicht verfügte. Denn erst durch die Hemmung und Unterdrückung des Willens zur Macht (der Einfachheit halber identifizieren wir diesen einmal mit dem psychoanalytischen "Es"), wurde es möglich, daß der Mensch Scham- und Schuldgefühle und so etwas wie ein Gewissen (also ein "Über-Ich") entwickeln konnte. Darin sieht Nietzsche dann auch das größte Verbrechen der christlichen Moral: denn die Unterdrückung des Willens zur Macht ist zugleich die Unterdrückung des Willens zum Leben. Die Verabsolutierung der Moralvorstellungen hat also einen schizoiden, in sich selbst von Schuldgefühlen und Ängsten zerrissenen Menschen geschaffen (was in Nietzsches Augen nichts anderes als krankhaft ist), einen Menschen, der das Leben und das Diesseits verneint, auf das Leben nach dem Tod und das Jenseits wartet, hofft, bangt und sich in Untätigkeit oder sinnlosem Tun ergeht, um sich nicht schuldig zu machen. Wenn man das gegenüberstellt, ergibt sich eine neue Deutung des Romans, in deren Kontext auch die Vorstellungen der Psychoanalyse durchaus Sinn ergeben:

 

Nietzsche

Psychoanalyse

"Der Proceß"

Verabsolutierte Werte

und Moralvorstellungen

Die "Vorstellung eines Gerichthaltens nach dem Tode"

Das "Gesetz"

Erziehung und Religion

Sozialisation und

"repressive Gesellschaftsnorm"

Das "Gericht"

Der schizoide Mensch, Schuldgefühle und Gewissen

"Über-Ich" und innere Sanktionen

Die Unfähigkeit von K., die Schuld von sich zu weisen,

seine Lähmung

Hemmt die freie Entfaltung des Willens zur Macht

Unterdrückt das "Es"

Mindert sein Streben nach Selbstbestimmung.

 

Auf dieser Grundlage kann man sich dann auch heranwagen, den Versuch einer Deutung der Parabel "Vor dem Gesetz" zu unternehmen. Zuerst sollte man dazu den "Mann vom Lande" mit Josef K. selbst identifizieren. Der "Mann vom Lande" repräsentiert den Unwissenden und insofern ergeben sich hier deutliche Parallelen, da K. am Anfang ebenso völlig unwissend ist und auch im weiteren Verlauf diese Unwissenheit nicht wesentlich verringern kann, sondern eine Nichtigkeit nach der anderen immer größere Bedeutung beimißt, ähnlich wie der "Mann vom Lande" den Flöhen im Kragen des "Türhüters". Aber weder wird dem "Mann vom Lande" der Zugang zum "Gesetz" gewährt, noch einem Josef K., indem ihm seine Anklage bekannt wird und er die Chance bekommt, sich in einen richtigen Prozeß zu verteidigen. Der "Türhüter" repräsentiert einen Teil des "Gerichtes", die anderen mächtigen "Türhüter" die Unendlichkeit der Hierarchie und der Macht des "Gerichtes". In der Erzählung des "Türhüters" erkennt man die Legendenbildung, die Mystifikation und die Verabsolutierung. Seine Macht besteht vor allem darin, daß er den dummen, unwissenden Mensch ängstigt, einschüchtert und ihn glauben macht – glauben macht, daß er mächtig ist, glauben macht, daß es andere, noch mächtigere "Türhüter" gibt, glauben macht, daß es möglich sei, eingelassen zu werden, glauben macht, daß der Eingang überhaupt irgendwo hinführt. Das entspricht dem, was Nietzsche kritisiert, und der "Mann vom Lande" ist nichts anderes als der indoktrinierte, schizoide, nihilistische abendländische Mensch, dessen eigentliches Verbrechen darin besteht, daß er sein Leben verpaßt und sinnlos vergeudet. In diesem Falle würde das "Gesetz" die christliche Moral und ihre metaphysischen Vorstellungen vom Jenseits (Himmel und Hölle) und das "Gericht" die Institution Kirche vertreten. Mit dem "Proceß" wäre dann entweder das sinnlos verstreichende Leben oder die Pathogenese von K.’s zunehmend schizoider Persönlichkeit gemeint.

 

Nachtrag: Ich habe noch eine Stelle in deinem Beitrag gefunden, die überhaupt nicht mit meiner Lesart des Romans zusammenpassen will: "Der Roman handelt von dem dreißig-jährigen Bankangestellten Josef K., der eines Morgens Besuch erhält von zwei Herren, die ihn zunächst in Arrest nehmen und ihm dann mitteilen, daß ein Prozess gegen ihn anhängig ist." Ich kann die betreffende Stelle, in der Franz und Willem Josef K. mitteilen, daß ein Proceß gegen ihn geführt werden wird, nicht finden. Das ist ja gerade das Seltsame: Josef K. ist derjenige, der zum erstenmal von einem Proceß spricht und zwar gegenüber Fräulein Bürstner: "Sie werden mir dann in meinem Proceß ein wenig helfen können." (Franz Kafka: Der Proceß. S. 35. Fischer-TB) Vielleicht ist das noch eine zusätzliche Unterstützung für meine These, daß der "Proceß" eigentlich eine Metapher für das Leben ist? An diesem Satz fällt noch etwas anderes ins Auge: muß es nicht eigentlich heißen: "Bei meinem Proceß"? Was hat es zu bedeuten, daß Josef K. statt dessen "in meinem Proceß" sagt?

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