Offenes Voting – September 2004

Das Abstimmungsergebnis
Der Abstimmungsverlauf
 

Alle Buchvorschläge in der Übersicht

"Die New York Triologie" von Paul Auster
"Das Böse kommt auf leisen Sohlen" von Ray Bradbury
"Der Meister und Margarita" von Michail Bulgakow
"Die Pest" von Albert Camus
"Ubik" von Phillip K.  Dick
"Schuld und Sühne" von Fjodor M. Dostojewskij
"Der große Gatsby" von F. Scott Fitzgerald
"Montauk" von Max Frisch
"Geschichte machen" von Stephen Fry
"Der Steppenwolf" von Hermann Hesse
"Memed, mein Falke" von Yasar Kemal
"Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" von Milan Kundera
"Der Zauberberg" von Thomas Mann
"No Exit" von Daniel Grey Marshall
"Die Entdeckung des Himmels" von Harry Mulisch
"1984" von George Orwell
"Der harte Engel" von Adrian Plitzco
"Der Räuber Hotzenplotz" von Otfried Preußler
"Mason und Dixon" von Thomas Pynchon
"Der Funke Leben" von Erich Maria Remarque
"Die Wüste Lop Nor" von Raoul Schrott
"Delphi" von Malin Schwerdtfeger
"Transit" von Anna Seghers
"Dracula" von Bram Stoker
"Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich" von Botho Strauß
"Der Fangschuß" von Marguerite Yourcenar
 

 

Vorschläge von Charis

"Die New York Triologie" von Paul Auster
Drei Geschichten, 374 Seiten
Rowohlt Taschenbuch Verlag

Zitate aus dem Internet - habe das Buch nicht zur Hand: "Die New-York-Trilogie ist das Buch, mit dem Paul Auster bekannt worden ist. Es besteht aus drei Geschichten, die alle in New York spielen. Doch dies ist nicht die einzige Gemeinsamkeit. Jeder der drei Romane der 'New York-Trilogie' wirkt zunächst wie eine klassische, spannungsgeladene Kriminalgeschichte, die den Leser mit raffiniert ausgelegten 'Ködern' in den Bann zieht. Doch arbeitet Auster nur mit diesen Versatzstücken. Bald scheinen die vordergründig logischen Zusammenhänge nicht mehr zu stimmen. Die Rollen der Täter und der Opfer, der Verfolger und der Verfolgten verschieben sich auf rätselhafte Weise. In Wirklichkeit werden die Detektive auf eine andere Suche geschickt ..." (Quelle: www.amazon.de u.a.)

Ich habe dieses Buch ausgewählt, weil ich es damals beim Lesen NIE wirklich kapiert habe ... und mich eine Diskussion und ein Meinungsaustausch über dieses rätselhafte Buch sehr erfreuen würde!
 

"Der Meister und Margarita" von Michail Bulgakow
Roman, 507 Seiten
DTV

"Unglaubliche Dinge geschehen im Moskau der dreißiger Jahre. Berlioz, der Vorsitzende einer Literaturgesellschaft, und Besdomny, ein junger Lyriker, diskutieren an einem Frühlingsabend ein von Besdomny verfasstes Auftragspoem, das die Nichtexistenz Christi beweisen soll. Ein Fremder mischt sich in ihr Gespräch ein, offenbar ein Ausländer. Dieser erwähnt beiläufig nicht nur, dass er mit Kant gefrühstückt habe, sondern auch, dass er beim zweiten Verhör Jesu durch Pilatus zugegen gewesen sei. Die Verblüffung der beiden Literaten [...] erreicht ihren Höhepunkt, als dieser Berlioz mitteilt, ihm werde noch am selben Abend der Kopf vom Rumpf getrennt. Und seine Worte bewahrheiten sich [...]." (Quelle: DTV)

"In dem Roman sind Fabel, Legende, Phantasie und Groteske zu einer Einheit verwoben. Parallelen lassen sich ziehen zu Gogol, Hoffmann, bisweilen zu E.A.Poe, Kafka oder Dostojewski." (Quelle: The Times Literary Supplement)

Auch bei diesem Buch, bei dem so viel auf zweiter, dritter Ebene zu finden ist, kann ich mir eine Diskussion sehr reizvoll vorstellen! 

 

Vorschläge von Dirk

"Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" von Milan Kundera
Roman, ca. 300 Seiten
SZ-Bibliothek, Fischer Taschenbuch Verlag

Ich halte dieses Buch für eines der klügsten und unterhaltsamsten Bücher, die jemals über die Liebe geschrieben wurden.

"Das Datum ist bestimmbar. Als im Frühjahr 1984 die Originalausgabe des Romans Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins in Paris erschien, war dem Autor Milan Kundera etwas gelungen, was seinen nach 1968 exilierten Landsleuten und Kollegen verwehrt blieb: er hatte den großen Durchbruch geschafft. [...] Die verschlungene, mehrfach gebrochene Liebesgeschichte zwischen Tomas und Teresa gibt den Rahmen ab für einen der witzigsten und intelligentesten Romane der vergangenen Jahre, der zugleich Leselust und höchste intellektuelle Ansprüche befriedigt. »Wann werden wir endlich einen deutschen Roman erhalten«, fragte die ›FAZ‹, »der sich so einfühlsam und nachdenklich mit Liebe und Sexualität befaßt und der das Individuum vor dem Hintergrund des Lebens hier und jetzt zeigt? Ein Roman, der überdies so intelligent und souverän, so lesbar und so unterhaltsam wäre?«"
(Quelle: Innentext der Fischer-Taschenbuch-Ausgabe von 1992)
 

"Die Pest" von Albert Camus
Roman, 349 Seiten
Rowohlt Taschenbuch Verlag

Ich habe versucht diesen Roman für O livro zu rezensieren. Ich bin gescheitert. Ich habe versucht, meine Gedanken zu diesem Roman zu ordnen und ihn zu verstehen. Ich bin gescheitert. Kaum ein Buch hat in den vergangenen zwei Jahren bei mir einen tieferen Eindruck hinterlassen als dieses. Ich habe bereits einiges von Camus gelesen, aber dieses Buch ist mit Abstand mein Lieblingsbuch des französisch-algerischen Nobelpreisträgers.

"Die Stadt Oran wird von rästelhaften Ereignissen heimgesucht. Die Ratten kommen aus den Kanälen und verenden auf den Straßen. Kurze Zeit später sterben die ersten Menschen an einem heimtückischen Fieber: Die Pest wütet in der Stadt. Oran wird hermetisch abgeriegelt. Ein Entkommen ist nicht möglich. Albert Camus' erfolgreichster Roman gehört zu den Klassikern der Weltliteratur. In ihm seziert er hellsichtig das menschliche Handeln im Angesicht der Katastrophe"
(Quelle: Umschlagstext der Rowohlt-Taschenbuch-Ausgabe 1998)

"Die Pest wütet ..." Besonders der erste Teil dieses Umschlagstextes ist unangemessen reißerisch. Wer jetzt ein äußerliches Horror- oder Albtraumszenario erwartet, der wird von diesem Buch wahrscheinlich enttäuscht werden. Der letzte Satz trifft es schon besser: Den Leser erwartet ein moralisches Buch – ein Buch, das sich mit dem "menschlichen Handeln" beschäftigt. Dabei oszilliert es zwischen zwei Polen: zwischen einem um Nüchternheit und Sachlichkeit bemühten Bericht und einer geradezu gespenstischen, ins Metaphysisch-Vieldeutige abgleitenden Atmosphäre.

Im Zentrum der Handlung stehen einige wenige Charaktere (ein Arzt, ein Verwaltungsbeamter, ein Reisender, ein Journalist, ein Selbstmörder und ein Priester). Sie veranschaulichen gleichnishaft, wie unterschiedlich einzelne Menschen mit Isolation und Bedrohung umgehen und wie sie angesichts einer ziemlich aussichtslosen und todbringenden Situation reagieren. Das ist das Schöne an dem Buch: es verallgemeinert nichts, es bewertet nichts, sondern bemüht sich um multiple Perspektiven. Und doch ist es gleichzeitig ein eindringlich humanistisches Plädoyer für Verantwortung und Solidarität. Am Ende wird sich jeder Leser die Frage stellen müssen: was hätte ich getan, wie hätte ich reagiert? 

 

Vorschläge von Fee

"Die Entdeckung des Himmels" von Harry Mulisch
Roman, je nach Ausgabe zwischen 797 und 867 Seiten
Rowohlt Taschenbuch, Carl Hanser Verlag

Ich habe dieses Buch erst einmal gelesen, aber da hat es mich fasziniert, begeistert, gefesselt, in seine Welt entführt. Der Inhalt lässt sich schwer in wenigen Sätzen erzählen. Meines Erachtens ist es eine Liebes- und Freundschaftsgeschichte um Ada, Max und Onno, die in eine Rahmenhandlung um die Entdeckung der Gesetzestafeln aus dem Alten Testament eingebettet ist. Es ist mit 800 Seiten zwar ein eher umfangreiches Buch, aber spannend, amüsant, gelegentlich bizarr...

Zitat von der Buchrückseite: "Eine in dieses umtriebige und abgründige Jahrhundert ausschwärmende Geschichte über eine ungewöhnliche Freundschaft, eine Liebe, die aufmüpfigen sechziger, die pragmatischen siebziger und die windigen achtziger Jahre und den langen Nachhall der Kriegs- und Nachkriegszeit; über ein ungewöhnliches Kind, das einen noch ungewöhnlicheren 'Auftrag' hat; einen Astronomen und Don Juan, der nie zur Ruhe kommt, und ein Sprachgenie, das in der Politik Karriere macht."

Dieses Buch gilt als das beste und erfolgreichste aller Werke von Mulisch und hat viel Begeisterung, aber auch manche Kritik ausgelöst (aber mehr wird nicht verraten).

Zum Autor: "Harry Mulisch wurde 1927 im niederländischen Haarlem geboren. Die Auseinandersetzung mit den Gräueln der Naziherrschaft in Holland entspringt einem autobiografischen Interesse Mulischs: Seine Großmutter und seine Urgroßmutter starben in Konzentrationslagern, während sein Vater nach Kriegsende als Kollaborateur zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. So zeichnet sich eine Vielzahl seiner Romane durch einen schonungslosen, aber differenzierten Umgang mit der Zeit der Besetzung Hollands durch die Deutschen aus. International bekannt wurde er mit der Geschichte 'Das steinerne Brautbett' (1959), die von einem amerikanischen Piloten erzählt, der an der Bombardierung Dresdens teilnimmt. 1982 wurde der Roman 'Der Anschlag' zu einem überwältigenden Erfolg. Weitere Romane schlossen sich an, darunter beispielsweise die international gefeierte Geschichte 'Die Entdeckung des Himmels' (1992). Mulisch veröffentlichte außerdem auch Dramen, Essays und Gedichte. Neben Cees Nooteboom gilt Harry Mulisch als der bekannteste Romancier der niederländischen Gegenwartsliteratur."
(Quelle: Süddeutsche Zeitung)

Ich hoffe, ihr lasst euch begeistern!
 

"Transit" von Anna Seghers
Roman, 290 Seiten
Aufbau Taschenbuch Verlag

Bis zu meinem Seminar über Exilliteratur im vorletzten Semester hatte ich noch nie was von Anna Seghers gehört, geschweige denn von ihrem Roman "Transit". Manchmal bin ich der Literatur um und über das 3. Reich etwas überdrüssig, aber dieser Roman zeigt einfach eine andere Seite, eine, die man nicht so oft mitbekommt.

Inhalt: Das ganze spielt in Marseille um 1940 und handelt von Emigranten, die es so weit, nämlich bis nach Marseille, schon geschafft haben und jetzt auf ihr Visum, ihren Transit und ihre Schiffe warten und kämpfen. Der Ich-Erzähler ist selber auf der Flucht und gibt sich jedoch - durch eine Reihe von Zufällen so gekommen - als jemand aus, der bereits gestorben ist. Er liebt die Frau des Toten und so ist der tote Ehemann, von dem die Frau nichts weiß, die einzige Verbindung zu der Frau und gleichzeitig das größte Hindernis. Dies alles geschieht in den langen Wochen des Wartens auf Visa, Transits, Schiffe...

Zitat von Heinrich Böll aus dem Nachwort: "Es gelingt Anna Seghers das Unwahrscheinliche, kaum Erklärbare: mit realistischen Mitteln das Unwirkliche der Situation, das Abstrakte des verrückten Transit-Begehrens, Transit-Verweigerns zusammenzustellen. Aus einer politisch genau zu definierenden Situation entsteht ein Roman, der Saga, Epos und Mythos zugleich ist."

Es hat mich fasziniert, wie gut es Anna Seghers gelingt, den Leser in die Situation hineinzuverbannen, wie sie ihn fesselt und man den Akteuren irgendwie zurufen will, was sie doch noch versuchen könnten und wie ihre Probleme gelöst werden könnten. Wie gesagt, dieser Roman zeigt eine etwas andere Seite, die ich gerade im Kontext der Auseinandersetzung mit Schriftstellerexilanten und Exilliteratur besonders interessant fand.

Zur Autorin: "Anna Seghers, bürgerlich Netty Reiling, geboren 1900 in Mainz, gestorben 1983 in Ost-Berlin, wo sie seit der Rückkehr aus dem Exil im Jahre 1947 lebte. [...] 1933 emigrierte sie mit ihrem Mann Laszlo Radvanyi und zwei Kindern nach Paris; nach der Besetzung Frankreichs 1941 Flucht über Marseille nach Mexiko. Diverse Preise, u.a. Büchner-Preis der Darmstädter Akademie; Autorin von 'Das siebte Kreuz', angeblich das bedeutendste Buch des Exils über das Dritte Reich."  (Zitat Klappentext)

 

Vorschläge von Hamburger

"Montauk" von Max Frisch
Eine Erzählung, 206 Seiten
Suhrkamp Verlag

Wie jedermann weiß, bemisst sich das Niveau dieses Clubs an Ingeborg Bachmann. Und wir haben noch gewaltig was gutzumachen bezüglich des nach ihr benannten Preises.

Das trifft sich ausgezeichnet mit meiner Liebe zu den Büchern von Max Frisch, denn der liebte vor gut vier Jahrzehnten Ingeborg Bachmann. Er hat sogar ein Buch darüber geschrieben. Und da bei den letzten Votings meine Max Frisch-Vorschläge nur knapp scheiterten und dieses Buch das einzige Frisch-Buch ist, welches Marcel-Reich-Ranicki als würdigen Frisch-Beitrag für seinen Literaturkanon erachtete (eine einmalige Referenz, oder?), schlage ich es vor.

Zum Inhalt: "Während einer Lesereise lernt Max Frisch (1911-1991) in New York die halb so alte geschiedene Verlagsangestellte Lynn kennen. Sie verbringen das Wochenende vom 11./12. Mai 1974 in Montauk an der Nordspitze von Long Island, aber es ist von Anfang an klar, dass er am Dienstag, den 14. Mai, zurück nach Europa fliegen und dort am nächsten Tag seinen 63. Geburtstag feiern wird. Außerdem vereinbaren sie, sich nach dem Abschied weder anzurufen oder zu schreiben. Allenfalls eine Ansichtskarte am 11. Mai 1975 soll erlaubt sein.

Die Erzählung über die Romanze im Mai 1974 teilt Max Frisch in viele einzelne Teile auf, die er mit älteren Erinnerungen, Tagebuchauszügen, Selbstreflexionen und anderem autobiografischen Material zu einer Collage montiert -- wodurch das Werk über die individuelle Konfession hinausgehoben wird. Der Verzicht auf Fiktionen und die Beschränkung auf Authentisches machen 'Montauk' gewissermaßen zum Gegenstück von 'Mein Name sei Gantenbein'"
(Quelle: Dieter Wunderlich)
 

"Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich" von Botho Strauß
Roman, 168 Seiten
Hanser Verlag

"Botho Strauß hat eine Liebesgeschichte geschrieben: Ein Mann, eine Ehefrau, eine Geliebte kommen einander nahe und bleiben einander fremd. Der Autor betrachtet das Geflecht zwischen den Menschen. Wie so oft erzählt Botho Strauß ohne epische Handlung, ohne festen Boden, mit kippender Zeit.

'Von einer uneindämmbaren Rede hinweggerissen'... 'ein Chaos von Abirrungen und verschlungenen Pfaden'... 'ein fortwährendes Verwischen und Entgleiten des Sinns'. Und so schlendert der Leser nicht nur mit Erzähler und Frau über den morgendlichen Boulevard, plötzlich getroffen vom dunklen Blick der Geliebten. Er gerät in einen Taumel von Begebenheiten und Personen, auf der Rolltreppe abwärts in einen fernen Raum, hört törichte Jungfrauen vor Gericht, sieht eine Dame mit kosmetisch vergrößertem, puterroten Ohr, eine andere mit Haken an Hinterkopf und Steiß, schmerzhaft in die Luft gezogen.

'Man träumt immer abwegiger mit den Jahren, der Zug der Bilder entfernt sich aus der Umlaufbahn der Person' ... 'er gerät nicht selten in die Peripherie des Irrsinns und der vollkommenen Unkenntlichkeit.' Botho Strauß sehnt sich nach einer Welt jenseits von Vernunft und Klarheit. Er beschwört einen mythischen Zustand: Schön und schrecklich soll er sein, den Menschen ganz und gar erfassen, das Leben nicht enträtseln, sondern verschlingen. 'Er erfüllte lediglich das Verlangen nach der wieder gefundenen Unfertigkeit und Kindheit aller Zusammenhänge...'

Der Autor wünscht sich eine romantische All-Einheit und versucht, sie in einem sprachlichen Taumel herbeizuerzählen. Schon die Romantiker ahnten, dass sie sich nach etwas Verlorenem sehnten. Die Enttäuschung ihres späten Verwandten Botho Strauß entlädt sich in der nüchternen Gegenwart: Das Stadtviertel, in dem der Erzähler ausharrt, liegt brach und verlassen. Die Leute leben zwischen verwahrlosten Schwimmbädern, mit Brettern vernagelten Leihbibliotheken, eingestürzten Parkhäusern. Alles Zeichen für die Ödnis ihrer Welt. Abends essen die Wohlhabenden unter ihnen in einem 'Palast der Luxusleere', einem weitläufigen Gebäude, in dem die Gäste mutterseelenallein in voneinander entfernten 'Verzehrbuchten' sitzen. Vereinzelt, isoliert, kennen sie nur die Oberfläche des Lebens.

Der Witz und die Schärfe von Botho Strauß' Gegenwartszeichnung haben seit den Stücken der 80er Jahre nachgelassen. Der Beobachter hört in der eigenen Zeit und Umwelt und Sprache nicht mehr so genau hin. Denn er sieht wie gebannt in 'den unabsehbaren und alles zermalmenden Fluss der Unwirklichkeit', ... 'der unsere Fundamente unterspült und unsere Habe davonträgt.'" (Quelle: Radio Bremen, Autorin: Sandra Kerschbauer)

 

Vorschläge von Hilbi

"Delphi" von Malin Schwerdtfeger
Roman, 304 Seiten
Kiepenheuer & Witsch

Ohne jede Chance, aber immerhin einer der wenigen deutschen Autor(innen), die mir wirklich außerordentlich gut gefallen und die hat ein neues Buch geschrieben und gelesen hab ich's noch nicht, aber werde ich.

"Malin Schwerdtfeger erzählt in ihrem dritten Buch - nach den Erzählungen 'Leichte Mädchen' und ihrem Roman 'Café Saratoga' - eine Familiengeschichte der besonderen Art am Ende des 20. Jahrhunderts.

Wie wurde man erwachsen, was war wichtig, was passierte wann und warum. Die Fragen, um die es in dieser wunderbar skurrilen und bunten Familienchronik geht, sind die, die sich alle im Rückblick stellen. Aber wer ist ein vertrauenswürdiger Zeuge der Vergangenheit? 'Erinnerungen sind wie unscharfe Filme, wie Gehbehinderungen, Konzentrationsschwächen und Sprachfehler. Sie sind unzuverlässig, weil ihre Körper unzuverlässig sind. Ihre Augen, Ohren, Gehirne und Münder sind entweder zu jung, zu alt, zu schwach oder zu selbstverliebt, um zuverlässige Chroniken zu liefern.' Immer schon ist der, der von der Vergangenheit spricht, ein in der Gegenwart Verfangener. Deswegen: 'Nicht die Lebenden erzählen von den Toten, sondern umgekehrt.' So beginnt dieser Roman, der sich unterscheidet von den gerade Konjunktur habenden Familienbiografien und Kindheitserkundungen - nicht zuletzt durch seine literarische Mischung aus kühler Menschenkenntnis und überbordender Fabulierlust."
(Quelle: RBB, Kulturradio am Morgen, Autorin: Manuela Reichart)
 

"Mason und Dixon" von Thomas Pynchon
Roman, 1023 Seiten
Rowohlt Taschenbuch Verlag

Na gut, dann schlage ich noch "Mason und Dixon" vor – von Thomas Pynchon. Aber ich werde nicht erzählen, dass es in dem Buch um zwei Landvermesser, Sternengucker und Astrologen geht, wie sie unterschiedlich kaum sein könnten und doch, wie es immer so ist, na ja, wie es nicht immer so ist, wie es also manchmal so ist, kommen die zwei ohne einander zwar auch aus, aber irgendwie, na ja, sie waren halt Freunde.

Aber was erzähle ich da? Wenn man die Geschichte Amerikas kennen lernen möchte, so ist dieses Buch ein "Muss", es ist aber kein "Muss", weil es für Pynchon, glaub ich, gar kein "Muss" gibt. Thomas Pynchon ist einer meiner Lieblinge. Er gehört zu jenen Autoren, die es fertig bringen, sprechende Hunde auf dem Parkett der Literatur tanzen zu lassen und ein paar Seiten später über ein Massaker an Indianern zu schreiben, das durchaus an Ereignisse in der hiesigen Zeit erinnert. Ich mag Pynchon, weil er die Augen aufmacht, weil er eben kein typischer Amerikaner ist, schlimmstenfalls ist er ein europäischer Amerikaner, aber jetzt erzähle ich gar nichts über das Buch.

"Mason und Dixon" gehört zu meinen Lieblingsbüchern, ich lese es gerade zum zweiten Mal und das kommt immerhin nicht sehr häufig vor. Ein bisschen hoffe ich, dass es nicht gewählt wird, weil ich es dann zum dritten Mal lesen müsste. Ach, und wenn schon.

Mason und Dixon ist ein großes und ein sehr kleines Buch. Es ist schnell gelesen, es ist 1023 Seiten stark.

 

Vorschläge von Khadija

"1984" von George Orwell
Roman, 280 Seiten
Ullstein Verlag

"'1984' ist der meistgelesene und einflussreichste Science-Fiction-Roman der Weltliteratur. Mit eindringlicher Schonungslosigkeit zeichnet George Orwell hier das Zukunftsbild einer durch und durch totalitären Gesellschaft und eines bis in das Alltagsleben hineinregierenden autoritären Staates, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, jeden Bürger von der Richtigkeit seines Tuns zu überzeugen – mit welchen Mitteln auch immer." (Zitat Klappentext)

Seine düstere Vision wirkt erschreckend real. Beim Lesen fällt immer wieder auf, dass die Zustände heute gar nicht mehr so weit von dem Schreckensbild, das Orwell entwirft, entfernt sind.
 

"Der Funke Leben" von Erich Maria Remarque
Roman, 401 Seiten
Kiepenheuer & Witsch

Das Buch schildert schonungslos die Zustände in einem deutschen KZ. Die Insassen sind namenlos, nur durch Nummern bezeichnet. Im Lauf der Geschichte lernt man die Figuren und die Hintergründe ihrer Inhaftierung kennen. Der Krieg nähert sich dem Ende und es zeigt sich ein Funke Hoffnung im Lager.

Durch seine klare Sprache und seine realistischen Beschreibungen schafft es Remarque den Leser mitten ins Geschehen zu versetzen. Seine Bilder und Formulierungen brennen sich ins Gedächtnis, man vergisst sie lange nicht. Das Buch schafft es, ein Gefühl für jene Zeit zu vermitteln. Besonders glaubwürdig wird es durch die differenzierte Darstellung der Täter sowie der Häftlinge. Diese Art der Darstellung berührt mehr als ein mit erhobenem Zeigefinger geführter Bericht es je könnte. 

 

Vorschläge von Kleinervogel

"Der harte Engel" von Adrian Plitzco
Psychothriller, 300 Seiten
DTV

Unsere Buchhandlung in Beeskow ist klein. Verdammt klein. Und ziemlich schummerig beleuchtet. Ich glaube, die Versicherung würde nur 10 Mann tragen, inklusive der Mitarbeiter, wenn dort etwas passieren würde. Hauptsächlich gibt es dort Bücher, die man so auf dem Lande braucht: Kinderbücher, Bücher über die Umgebung, Gartenführer. Dann haben sie dort noch drei-vier Drehständer mit Büchern aller Art (Belletristik, Taschenbücher und was das Herz sonst begehrt ... ), und an der Theke mit der Kasse – da stehen die Thriller und Krimis.

Als mir mal langweilig war, ich Lust auf diesen abgestandenen – aber trotzdem überaus angenehmen – fast schon dem einer Bibliothek ähnelnden Geruch hatte, bin ich hinein, habe die halbe Belletristik angesehen, und bei den Thrillern hängen geblieben. Wie viele Bücher gibt es bloß mit einem Titel, der das Wort "Engel" enthält?! Spontan kann ich mich noch an "Der vierte Engel" erinnern und "Der letzte Engel". Doch ein Cover hat mich irgendwie gepackt.

"Der harte Engel" stand auf einem Vorsprung des Holzregals. Ich hatte mich hingehockt und mir war das schwarze Buch irgendwie ins Auge gestochen. Die rote Schrift des Titels. Und dann die helle, marmorne Figur darauf. Eine Frau mit geschlossenen Augen und nach links hängendem Kopf. Ich drehte das Buch um:

"Ich sehe, wie der Mörder auf Maryanne zugeht. Immer wieder sehe ich es, es ist immer das gleiche Bild, sobald ich die Augen schließe." (Zitat Buchrückenseite) Ich machte die Augen zu. Und ich dachte an ein Haus, in einem dunkelblauen Wald, an eine Frau und wie jemand zu diesem Haus läuft. Ich habe das Buch zurück gelegt. Aus irgend einem Grund.

Knapp eine Woche später, an einem Donnerstag, morgens kurz nach Neun, weil ich Donnerstags ja immer früh 2 Freistunden habe, stand ich wieder vor dem Buchladen. Meiner russischen Austauschschülerin habe ich gesagt, sie möge hier warten oder mit rein kommen. Ich ging rein. Allein. Stellte mich vor das Regal... Bekam fast einen Schock, als der Thriller nicht mehr an seinem angestammten Platz stand. Ich hockte mich wieder hin. Und da war es. Triumphierend hielt ich es den ganzen Tag in der Hand. Es lag auf meinem Tisch während der 4 Stunden Unterricht. In der Buchhandlung war ich seitdem nicht mehr. Jedes Mal, wenn ich das Buch auf meinem braunen Tisch in der Mitte meines Zimmers sehe, würde ich es am liebsten greifen und mich wissen lassen, warum der Engel auf dem Cover einen Schnitt auf der linken Brust hat, und blutet ...
 

"No Exit" von Daniel Grey Marshall
Roman, 400 Seiten
Reclam Verlag

Eigentlich sollte ich ja geheilt sein – jedenfalls von Büchern, die das Thema "Jugendliche in NY nehmen Drogen" behandeln. Doch ich hatte "No Exit" schon zu Hause. Es stand seit November 2003 bei mir im Schrank – so wie es eben jedes Buch bei mir tut. In diesen Sommerferien habe ich mir dann ein Herz gefasst und es versucht. Ich habe versucht mein durch "Zwölf" (von Nick McDonell) ausgelöstes Trauma zu überwinden. Also habe ich "No Exit" gelesen. Und gelesen. Und gelesen. Und an manchen Tagen, an denen ich auf der Terrasse in meinem blauen Stuhl saß, konnte – und wollte – ich nicht mehr aufhören. Einfach nur lesen.

Betäubt saß ich nach dem letzten Satz da. Selten war ich über 300 Seiten so gefesselt – von einer Hauptperson, Jim, gerade mal so alt wie ich, die ein Leben führt, das von Alkohol, von Irrsinn, von Nihilismus geprägt, irgendwohin verläuft. Ein Weg, der vom Diebstahl, von Verwahrlosung, von anscheinend vollkommen fehlender Erziehung zu 100 Prozent vorbestimmt scheint – das Ende ist entweder der Tod oder der Knast. Und jeder seiner engsten Verbündeten nimmt letztendlich einen anderen. Weil Mandy so plötzlich ihren Weg selbst wählt, verschieben sich alle Chancen auf andere Gleise und laufen auf Einbahnstraßen hin. Leslie zieht sich zurück. Philly entscheidet sich, aber er kann nichts mehr ändern. Jeremy ist es egal.

Und Jim ? – "Still Can’t See Nothin’ Comin'" (Originaltitel des Buches)

 

Vorschläge von Oliver M.

"Schuld und Sühne" von Fjodor M. Dostojewskij
Roman, je nach Ausgabe zwischen 700 und 800 Seiten
DTV, Aufbau TB, Reclam, Heyne, Goldmann u.a.

Ich möchte versuchen, den Inhalt des Buches aus dem Gedächtnis wiederzugeben, wobei sicherlich das eine oder andere zu kurz kommt, seine Vielschichtigkeit aber hoffentlich nachvollzogen werden kann:

Raskolnikow, Protagonist des Romans, ist Student und bewohnt eine Petersburger Absteige, ein Loch, die an "Fausts" enge Kammer mit den zu niedrigen Decken erinnert. Er hat weder Geld, noch gesellschaftlichen Kontakt. Wir schreiben etwa das Jahr 1865 (Erscheinungsjahr 1866). Petersburg, als Schauplatz stellvertretend für ganz Russland, ist völlig heruntergekommen. Es ist Sommer, die Straßen stinken nach Verwahrlosung und Alkoholismus.

Dostojewskij skizziert – Nietzsche antizipierend – die Situation des heraufkommenden bzw. ausbrechenden Nihilismus, der politischen und gesellschaftlichen Orientierungslosigkeit. Raskolnikow, mittlerweile zu verarmt, um seinem Studium folgen zu können, philosophiert in seiner Kammer über den "Übermenschen" (im speziellen Napoleon als dessen Verkörperung): wie weit darf der Übermensch gehen, um seine Ziele erreichen zu können? Napoleon hat gemordet, massenhaft, ebenso Caesar. Ist die Handlungsweise des "Übermenschen" durch seine Leistung, seine Errungenschaften legitimiert, und ist das Leben des einen Menschen weniger wert als das eines anderen?

Es ist in der Kritik bis heute ungeklärt, ob Raskolnikow bereits zu Anfang des Romans im Fieber ist (eine damals häufig auftretende und durch etwa Nahrungsmangel und seelische Not bedingte Erscheinung) oder dieses Folge seiner Tat, dem Mord an einer Pfandleiherin. Damit ist auch schon die Handlung umrissen: Raskolnikow mordet aus der Vorstellung heraus, dass er das Recht dazu habe: sein Leben, sein Weiterkommen ist mehr wert als das Leben einer "boshaften" alten Wucherin.

Als seine Mutter und Schwester ihn besuchen, ist R. bereits im schweren Fieber. Die Tat bleibt unbemerkt und das Verbrechen ist ihm nicht nachweisbar. Paradoxerweise versteckt R. die Beute und bedient sich ihrer nicht; das vermeintliche Motiv des Mordes, das Geld also, spielt hier keine Rolle mehr. R. leidet an seinem Gewissen; er hat mit der Pfandleiherin ungeplanter Weise auch ihre jüngere, unschuldige Schwester ermordet und verkraftet sein Verbrechen nicht. Er glaubt, sich mit seinem geplagten Gewissen bewiesen zu haben, dass er nicht der Übermensch sei, den er aus narzisstischen und rein egoistisch-existentiellen Motiven in sich zu sehen vermeint hat.

Es gibt keinerlei Beweise, Indizien oder Spuren, die zu einer Überführung Raskolnikows führen könnten, doch der Kommissar Porfirij Petrowitsch wittert Verdacht. Er beginnt ein subtiles psychologisches Sezierspiel, um R. der Tat zu überführen, indem er ihn zum Geständnis drängen will. Damit beginnt auch das sublime Zwiespiel der beiden. Mit dem Auftreten P. Petrowitschs beginnt der eigentliche Kriminalroman.

Dostojewskij bleibt in seiner profunden, subtilen Ausleuchtung der Seele bis heute unerreicht. Was er schreibt, wie er schreibt, ist in seiner Komplexität mit keiner Seelenkunde, keiner Psychoanalyse beschreib- oder nachvollziehbar. Er geht weiter und tiefer als jeder Schriftsteller vor und nach ihm. Dostojewskij ist ein Erlebnis, das man erfahren sollte.

Zum Schluss ein treffendes Zitat: "Keiner hat die komplizierte Zusammensetzung des Menschen mehr zergliedert als er, sein psychologischer Sinn ist überwältigend, seherisch. Zur Beurteilung seiner Größe fehlt uns das Maß, er steht allein." Knut Hamsun
 

"Der Steppenwolf" von Hermann Hesse
je nach Ausgabe etwa 230 Seiten
Suhrkamp Verlag

Das Buch, das keine Gattungsbezeichnung trägt, erschien 1927 und begründete den Weltruhm seines Autors.

Ich würde es beschreiben als Reflexion der sozial isolierten und sich selbst isolierenden Künstlerpersönlichkeit; als eine Art inneren Monologes und phantasmagorisches Assoziations-Experiment Hesses selbst, ohne dem Werk seine durchdachte Komposition absprechen zu wollen. "Der Steppenwolf" ist geprägt durch die Philosophie Nietzsches einerseits und die junge Psychoanalyse andererseits, jedoch keinesfalls darauf reduzierbar. Ich versuche, den Inhalt aus dem Gedächtnis wiederzugeben:

Harry Haller wird von einem fiktiven Herausgeber seiner "Aufzeichnungen" vorgestellt: der introvertierte, ruhige und seltsam anmutende Mann, an die fünfzig, stellt sich im Haus der Tante des Editors als neuer Untermieter vor. In dem alten, kleinbürgerlichen Haus erlebt Haller eine Mischung aus kindlicher Sehnsucht und intellektueller Verachtung, als er eine penibel zurechtgestutzte Pflanze und das ebenso kleinlich gebohnerte Parkett einer älteren Mitbewohnerin gewahrt ... doch ich verfange mich in Kleinigkeiten!

Zu Beginn der eigentlichen Aufzeichnungen Hallers teilen sich dem Leser sein Überdruß am – oder besser – die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben mit. Er hegt Selbstmordgedanken, jedoch in eben derselben Art und Weise, in der er die Gedanken zum Leben hegt – mit Gleichgültigkeit. Als er die Kurtisane Hermine und deren Freunde Pablo und Maria kennen lernt, beginnt er zu hoffen, versucht den Ausbruch aus seiner Isolation und Weltfremdheit. Hermine bringt ihm das Tanzen bei, sein vernachlässigtes Sexualleben wird durch Maria stimuliert, zu Pablo bleibt sein Verhältnis zunächst ein unbestimmt-zwiespältiges.

Er führt phantastische Zwiegespräche mit den "Unsterblichen", mit Mozart (über die schmähliche Erfindung des Radios) und Goethe, erlebt ebenso phantastische Verrücktheiten im "Magischen Theater" und philosophiert über die Funktion und das Wesen des Humors (ein Schlüsselbegriff).

Mit der etwas perplexen Darstellung (ist zu lange her) bin ich wohl an dem Versuch einer einigermaßen chronologischen Inhaltsangabe gescheitert, bin auch Autor und Werk nicht gerecht geworden. Trotzdem hoffe ich, Interesse geweckt und einen Einblick in die Handlung und den Themenkomplex gegeben zu haben.

 

Vorschläge von Razorback

"Das Böse kommt auf leisen Sohlen" von Ray Bradbury
Roman, 271 Seiten
Diogenes Verlag

Ray Bradbury ist den meisten sicherlich bekannt als der Autor des bei Englischlehrern extrem beliebten Romans "Fahrenheit 451". Hier kommt die gute Nachricht: Bradbury ist viel, viel mehr als der Verfasser dieses vergleichsweise langweiligen SciFi-Romans mit oberstufenrelevanter Moral. Ray Bradbury ist einer der ganz großen Mythenbildner der Phantastischen Literatur. Der letzte wohl, der eigenständige Bilder und Symbole gefunden und auf eindrucksvolle Weise geprägt hat, die bis heute Gültigkeit haben und weit über das Genre hinaus einflussreich sind. Er steht damit in einer Reihe mit Howard Phillips Lovecraft, H.G.Wells, Nathaniel Hawthorne, Edgar Allan Poe. Ob Clive Barker, der als einziger der modernen Autoren entsprechendes Potential hat, irgendwann in dieser Reihe auftauchen kann, kann erst die Zukunft entscheiden. Bis dahin bleibt Bradbury der letzte der Großen.

Aber es sind nicht nur Bradburys Ideen, die ihn zu einem herausragenden Autor machen. Seine Symbolik ist ebenso kreativ wie originell, ebenso kraftvoll wie unaufdringlich. Seine Fähigkeit, Atmosphäre zu schaffen, ist mit wenig vergleichbar, großartig.

"Something Wicked This Way Comes" (der Deutsche Titel ist, wie meist, eher blöd) ist eigentlich eine sehr einfache und typische Geschichte: Das Böse kommt – in harmloser Gestalt – in eine kleine amerikanische Stadt. Thema ist der klassische Kampf Gute gegen Böse. Es geht um Freundschaft, Ende der Kindheit und es geht darum, wie man dem Bösen erliegen und wie man es besiegen kann. Er versteht etwas von Menschen – egal ob Figuren oder Leser. Bradburys Erzählkunst macht aus diesem einfachen Setting eine höchst atmosphärische, dichte, wunderbare Geschichte (Drei Adjektive!!! Er hat sie alle verdient!). Gerade diese Geschichte, ihre Figuren und Ideen, sind immer wieder kopiert worden. Aber da eben niemand so erzählen kann wie Bradbury, müssen seine Nachfolger immer bombastisieren oder vordergründiges Entsetzen säen. Ray Bradbury muss das nicht. Das Böse ist hier böse. Das reicht.

Das Buch wurde 1962 geschrieben, die Handlung spielt etwas früher.
 

"Der große Gatsby" von F. Scott Fitzgerald
Roman, je nach Ausgabe zwischen 180 und 254 Seiten
SZ-Bibliothek, Reclam, Klett, Diogenes Verlag u.a.

"Der große Gatsby" von F. Scott Fitzgerald

Das Buch hat mich bis in die Abiturprüfung hinein verfolgt, es ist auch so ein typisches Englisch-Oberstufenbuch. Mir konnte es kein Lehrer und keine Note vermiesen, ich habe es von Anfang an geliebt. Ich mag gute Bücher über das Scheitern, und kaum eines ist so ruhig, so melancholisch, so unkitschig, so einfach und so schön wie Fitzgeralds Gatsby. In der Schule liest man es meist als grandiose Schilderung der reichen Gesellschaft in einem bestimmten Augenblick der amerikanischen Geschichte (1920er Jahre). Das ist es auch, aber das ist es nicht, was es in meinen Augen so ungeheuer lesenswert macht. Fitzgerald schildert – sprachlich selbstverständlich brillant – mit sehr einfachen Mitteln, klarer Symbolik das Scheitern eines trotz all seiner Erfolge zum Scheitern Verurteilten. Eine kurze, etwas traurige, sehr, sehr lesenwerte Geschichte.

Ich habe den Roman bisher nur auf Englisch gelesen. Er ist aber jetzt in der SZ-Bibliothek erschienen, und da vertraue ich mal auf eine anständige Übersetzung.

 

Vorschläge von Silentium

"Ubik" von Phillip K. Dick u.a.
Roman, 427 Seiten
Heyne Verlag

Zum Inhalt sagt www.amazon.de: "Haben Sie Lust auf ein erfrischendes, wohlschmeckendes Bier? Dann bestellen Sie ein Ubik. Hergestellt aus hochwertigem, Hopfen und feinem Quellwasser ... Starten Sie den Tag mit einem Teller gesunder wohlschmeckender Ubik-Flocken! ... Meidet man Sie wegen Körpergeruch? Dann benutzen Sie das Ubik-Deospray ...

Joe Chip ist Angestellter bei Runciters Anti-PSI-Gesellschaft, deren Telepathen engagiert werden, um andere Telepathen zu überwachen, sie davon abzuhalten, die Konsumwelt einer nahen Zukunft mit schmutzigen Tricks zu manipulieren. Runciter selbst vertraut noch immer auf den Rat seiner verstorbenen Frau Ella, die er regelmäßig aus ihrer Stasis in eine Art Halbleben zurückruft. Jetzt steckt er allerdings in Schwierigkeiten: Anscheinend verschwinden die Telepathen weltweit, und niemand weiß wohin. Runciters Ermittlungen stoßen jedoch auf wenig Gegenliebe: Bei einer Explosion kommt er ums Leben, eindeutig kein Unfall. Von diesem Zeitpunkt an gerät die Welt für Joe Chip aus den Fugen. Die Zeit scheint rückwärts zu laufen, und immer wieder tauchen rätselhafte Botschaften seines verstorbenen Arbeitgebers auf. Das wiederkehrende Schlüsselwort ist Ubik – doch was ist Ubik?" (Quelle: www.amazon.de)

Okay, ich weiß, manche hier (zudirkschiel) mögen SciFi nicht besonders. Das könnte euch eventuell aussöhnen. Minimalmengen an Außerirdischen und UFOs, ehrlich. Was Dick treibt: Er pickt sich eine Entwicklung, ein Dilemma unserer Gesellschaft heraus und denkt sie konsequent zu Ende. Wie lange darf man jemanden künstlich am Leben erhalten? Was passiert im Kopf von Quasi-Toten? Ist das eine Art echtes Leben oder eine virtuelle Realität, ein langsames Lebenssaft-Auströpfeln, eine statische Agonie? Im Buch wird einmal erklärt, dass diese Halblebenden, Tote mit intaktem, anzapfbaren Hirn, nur begrenzt wieder zurückgerufen, kontaktiert werden können. Sie brauchen sich auf. Wenn das keine interessante Problematik ist: Wir rationiere ich meinen Vater? Hält Oma noch bis Weihnachten?

Hm, razor kennt sich bestens mit Dick aus und daher begebe ich mich ja eigentlich auf fremdes Territorium. Ich wage trotzdem zu behaupten: Nix SciFi, nix Außerirdische, nix Zauberei. Sehr viel ethisches Gedenk mit ein bissl Rätsel und Ironie rundherum.
 

"Dracula" von Bram Stoker
Roman, je nach Ausgabe zwischen 473 und 548 Seiten
Ullstein Verlag, Könemann, DTV

Im Forum "Rezensionen" gab's ja schon mal sowas:
"Bram Stokers DRACULA"

Ich denke, zur Geschichte muss ich nichts sagen? Ein netter Untoter aus den Karpaten, der gern Hälschen-Beißen spielt und einige Damen, die ins Hälschen gebissen werden.

Also, warum jetzt? Weil es interessant wäre, darüber zu streiten, warum dieser Zahnheini solche Faszination ausübt und zwar über Generationen hinweg. Mein kleiner Bruder feuert im Kino immer die Bösen an und etliche der erfolgreichsten Musicals haben einen androgynen, zerrissenen Bösewicht ("Tanz der Vampire", "Mozart"!, "Les Miserables", "Elisabeth"...). Warum stürzen sich die lesefeindlichsten meiner Mitschülerinnen auf die (bis auf wenige Ausnahmen) extrem kitschig-schwülen Machwerke von Frau Rice ("Interview mit einem Vampir")?

Vielleicht ist das evolutionstechnisch so veranlagt? Der Mächtige (der mit der größten Keule, Faustkeil, Schwert, Kanone, Auto) hat gute Fortpflanzungschancen, wirkt daher anziehend. Und dann hat der Dracula auch noch ein Schloss! Es wäre vielleicht ganz interessant, vom Herrn Graf ausgehend, den literarischen Bösling im allgemeinen zu verhandeln. Und nicht zuletzt haben sich anno dazumal altmodische alte Männer darüber aufgeregt.

 

Vorschläge von Spiderman

"Geschichte machen" von Stephen Fry
Roman, 460 Seiten
Rowohlt Taschenbuch Verlag

Ich zitiere den Umschlagstext: "Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn Hitler nie geboren wäre? Den jungen Cambridge-Historiker Michael Young und den Physik-Professor Leo Zuckermann quält diese Frage und der Wunsch, den Holocaust ungeschehen zu machen. Sie lassen dem Traum Taten folgen. Auf wunderbare Weise schaffen sie den Zeitsprung nach Braunau ins Jahr 1888, und als Folge einer Brunnenvergiftung bekommt Alois Hitler keinen Sohn und das deutsche Volk keinen Führer geschenkt. Bleibt der Menschheitsgeschichte ihr finsterstes Kapitel erspart? Zurück in der Gegenwart erwacht Michael in einer anderen Welt..."

Zum Autor, und da zitiere ich wieder den Umschlagstext eines seiner anderen Bücher: "Stephen Fry wurde 1957 in Hampstead, London geboren. Er unterrichtete bereits an einer Universität, bevor er selbst eine besuchen durfte, kam wegen Kreditbetrugs in jungen Jahren ins Gefängnis und verdiente dann rasch seine erste Million mit einem Theaterstück. Er hat zahlreiche Stücke für die Bühne geschrieben und in unzähligen mitgewirkt. Als Schauspieler war er auch in 'Oscar Wilde', 'Peter's Friends', 'Gosford Park' und 'Entdeckung des Himmels' zu sehen. Mit seinen Romanen 'Geschichte machen', 'Der Lügner', 'Das Nilpferd' und 'Der Sterne Tennisbälle' avancierte Stephen Fry zu einem führenden Vertreter des britischen Humors."

Das Buch, ich habe es vor wenigen Wochen gelesen, mag ich als eins der unterhaltsamsten und geistreichsten Bücher bezeichnen, die ich in den letzten Jahre gelesen habe. Zugegeben, es ist auch ein sehr gewagtes Buch und die alternative Gegenwart, die Fry entwirft, bietet Anlass zu zahlreichen Kontroversen. Daher halte ich es in höchstem Maße für eine ausführliche Diskussion bei O livro geeignet. Auch die stilistische Gestaltung erscheint mir durchaus originell. Liest sich locker-flockig, als ginge es um eine Teenie-Love-Story (äh, darum geht es in dem Buch nebenbei auch), dazwischen mit ernstem Pathos geschriebene Rückblenden und Action in Drehbuchform. Klingt nach Nonsens? Tatsächlich erscheint mir das Buch gut recherchiert, gut durchdacht und geht der Frage nach Geschichte mit großer Ernsthaftigkeit nach.
 

"Der Zauberberg" von Thomas Mann
Roman, 1001 Seiten
Fischer Taschenbuch Verlag

Ach, Lyrik geht nicht, das ist ja blöd. Ersatzvorschlag? Bitteschön: Thomas Mann - "Der Zauberberg"! Warum? Einfach so, ich will eh "Geschichte machen" diskutieren.

 

Vorschläge von Surjaninov

"Der Räuber Hotzenplotz" von Otfried Preußler
Eine Kasperlgeschichte, ca. 120 Seiten
DTV, Bertelsmann Verlag

"Kasperl und Seppel machen sich auf, den wilden Räuber Hotzenplotz zu fangen, der Großmutters Kaffeemühle gestohlen hat. Unglücklicherweise fallen sie dabei in die Hände des Räubers Hotzenplotz und des bösen Zauberers Petrosilius Zwackelmann." (K. Thienemann Verlag, 1962)

Ich denk ich befinde mich mit meinem Vorschlag allein auf weiter Flur, aber dafür stehe ich dort neben dem Sieger der Herzen.
 

"Der Fangschuß" von Marguerite Yourcenar
Roman, 89 Seiten
SZ-Bibliothek

Klappentext: "1919 ist der Erste Weltkrieg zu Ende, doch im Baltikum dauert der Bürgerkrieg an. Während die Russische Revolution in vollem Gange ist, kommt der preußische Offizier Erich von Lhomond mit einem Trupp von Weißgardisten nach Kratovice. Dort begegnet er Konrad von Reval, einem Freund aus Jugendtagen, der mit seiner Schwester Sophie in einem verfallenen Schloss lebt. Zwischen den entwurzelten Protagonisten entwickelt sich eine ebenso heftige wie quälende Dreiecksbeziehung voller Erotik und unerfüllter Begierde. Immer wieder sieht sich Sophie von Erich zurückgewiesen, der sich anscheinend stärker zu ihrem Bruder hingezogen fühlt. Vor dem Hintergrund der Kriegswirren entsteht so eine fesselnde Geschichte von Hingabe und Enttäuschung, ein psychologisches Kammerstück voller Spannung über das Verlangen und die Liebe.

Marguerite Yourcenars 'Der Fangschuß' (1939) wurde 1976 von Volker Schlöndorff verfilmt und zählt zu den bekanntesten Romanen der Autorin."

Die Autorin: "Die Erzählerin und Essayistin Marguerite Yourcenar wurde 1903 in Brüssel als Marguerite de Crayencour geboren. Sie wuchs im französischsprachigen Flandern auf und begann schon als Jugendliche mit dem Schreiben. Nach dem Tod des Vaters führte sie ein unstetes Leben und war bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beständig auf Reisen. Zu Beginn des Krieges ließ sie sich in den USA nieder und erhielt 1947 die amerikanische Staatsbürgerschaft. Unter dem Namen "Yourcenar" – annähernd ein Anagramm ihres Geburtsnamens – veröffentlichte sie bereits 1936 das Prosagedicht 'Feuer'. Es folgten unter anderem die Romane 'Der Fangschuß', 'Ich zähmte die Wölfin' (1951) und 'Die schwarze Flamme' (1968). Außerdem übersetzte Yourcenar mehrere Romane aus dem Englischen ins Französische, veröffentlichte eine Reihe von Essays und unterrichtete französische Literatur in New York. 1980 wurde sie als erste Frau in die angesehene Académie française aufgenommen. 1987 starb Yourcenar in den USA." (Quelle: http://www.sz-bibliothek.de)

Nun, das Buch ist sehr dünn, nur 89 Seiten. Es ist in der SZ-Bibliothek erschienen, als Band 15, und kostet demzufolge nur 4,90€.

 

Vorschläge von XRay

"Die Wüste Lop Nor" von Raoul Schrott
Novelle, zwischen 123 und 128 Seiten
Fischer Taschenbuch, Carl Hanser Verlag

Dazu hier mehr: http://www.perlentaucher.de/buch/3069.html

Die Stimmen zu diesem Werk fallen sehr unterschiedlich aus. Manche halten es für "Wie Sand und Wasser das Geschiebe der scharfkantigen Dünen durch Raum und Zeit vorantreiben, so schärft die einfache, klare Sprache Raoul Schrotts Gefühle in der Erinnerung." (Gennaro Ghirardelli, FAZ, 18.10.2000)

Andere wiederum sind sich da nicht so sicher: "Ein Buch, das ganz sicher keine Novelle ist, und mich ratlos macht. Ist das die hohe Schule der Poesie oder bloß ziemlich banaler Manierismus? '... ein dunkles Pochen, gleich dem eines gebrochenen Herzens.' Irgendwie kann ich mir ein gebrochenes Herz, das noch pocht, nicht vorstellen. Und einen Ausdruck wie 'bitterlich weinend' würde ich persönlich nicht verwenden. Jenseits aller Geschmacksfragen: die unwichtigsten Dinge werden in jeder Einzelheit ausführlichst beschrieben, das wirklich Wichtige in wenigen Sätzen. Ich traue mir derzeit kein Urteil zu, werde aber den Verdacht nicht los, dass hier mit Münzen geklimpert wird, die den aufgeprägten Tauschwert nicht erreichen." (Michael Amon)

Ich denke, das Buch hat Diskussionsbedarf.
 

"Memed, mein Falke" von Yasar Kemal
Roman, je nach Ausgabe zwischen 330 und 380 Seiten
Unions Verlag

"Memed, mein Falke" wurde in über 40 Sprachen übersetzt und hat Kultstatus nicht nur in der Türkei. Ich denke, wir könnten neben einem deutschen Buch auch ein Werk eines ausländischen Autors dagegenstellen, und Y. Kemal ist sicherlich einer der großen. Alle seine Bücher erscheinen in Deutschland im Unionsverlag.

1997 hat er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Günter Grass hielt die Laudatio. Siehe dazu:
http://www.bostonreview.net/BR23.6/grass.html


Hier sind alle Werke Y. Kemals in deutscher Übersetzung zu finden:
http://www.unionsverlag.ch/authors/kemal/kemhome.htm

Und das auch noch:
http://www.nadir.org/nadir/periodika/widerstand/kunst_1.htm  

 

Zum Abstimmungsergebnis geht es hier.